In die Nacht hinein: Roman (German Edition)
nicht.«
Sie hat plötzlich einen panischen, wilden Ausdruck im Gesicht.
»Ich dachte immer, ich baue einen Ort auf, an den Missy kommen könnte«, sagt sie. »Seit er ein verlorener kleiner Junge war. Ich wusste, dass unsere Familie nicht mit ihm umgehen konnte. Ich meine, sie wirken aus einem gewissen Abstand romantisch, aber sie kriegen wirklich nicht viel geregelt. Und jetzt ist es anscheinend überhaupt nicht das, was ich wollte. Ich wollte Missy sein . Ich wollte die Schwierige sein. Ich wolle diejenige sein, um die sich jemand kümmern muss.«
Peter möchte sie schlagen. Er möchte das wirklich tun.
Er sagt: »Kümmere ich mich denn nicht um dich?«
»Ich will nicht grausam sein. Tut mir leid.«
Peter kann nur sagen: »Nein, erzähl mir mehr.«
»Ich fühle mich hier wie eine Fremde, Peter. Manchmal komme ich heim und denke, wer wohnt hier? Ich liebe dich. Ich habe dich geliebt.«
»Du hast .«
Was ist mit all den gemeinsamen Abendessen, was ist mit unseren Sonntagen?
»Nein, doch, ich liebe dich, aber ich … ich bin völlig durcheinander. Ich komme mir vor, als hätte ich jeden Halt verloren.«
Sie beißt wieder auf ihren Finger.
»Mach das nicht«, sagt Peter.
»Ich bin eine miserable Mutter. Für jeden. Ich konnte Bea nicht helfen, ich konnte Missy nicht helfen. Ich bin bloß ein Kind, das gelernt hat, eine Erwachsene darzustellen.«
Peter bemüht sich darum, klar zu bleiben.Was soll er zu ihr sagen, was möchte er zu ihr sagen? Dass all ihre Mühen, eine Zuflucht für ihren kleinen, verlorenen Bruder zu schaffen, von ihrem vernarrten Mann zunichtegemacht wurden, der Missy nicht mit Liebe vertrieben hat, sondern weil er ein Geheimnis gewahrt hat? Soll er ihr erklären, dass sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach all diese Jahre geirrt hat, dass der junge Prinz, traurig es zu sagen, nur ein mieser Schwindler ist, der den Tempel, den sie für ihn gebaut hat, ganz gern für seine Gaunereien nutzt?
Ist es nicht so? Wir bauen Paläste, damit jüngere Leute einbrechen, die Weinkeller plündern und auf die mit Gobelins verhangenen Emporen pinkeln können.
Man denke nur an Bea. Dachten sie nicht, sie würde gern in SoHo leben, sie würde mal enge kleine Chanel-Röcke tragen und in einer Band spielen wollen? Konnten sie sich vorstellen, dass ihr Wunsch, sie glücklich zu machen, sich als bedrohliches Monster entpuppen würde?
Geben wir jemals irgendwem das Geschenk, das er tatsächlich haben will?
Wie konnte er vergessen, dass Rebecca ihr eigenes Leben hat und die fortwährende Arbeit daran, Rebecca zu sein, nicht unbedingt von ihm abhängt?
»Du bist nicht miserabel«, sagt er. »Du bist menschlich.«
Sie sagt: »Würdest du nicht lieber frei sein?«
»Nein. Ich weiß es nicht. Ich liebe dich.«
»Auf deine Art.«
Auf deine Art. Eine Gemütswoge türmt sich in ihm auf, ein Schwall unerträglicher Traurigkeit. Er hat alle im Stich gelassen. Er hat weder gehört noch gesehen.
»Wir sollten uns nicht trennen«, sagt er. »Nicht jetzt.«
»Meinst du, wir sollten einfach weitermachen?«
Er hindert sich daran zu sagen: Ja, genau das sollten wir tun. Wir sollten einfach weitermachen .
Hätte er sie nicht verlassen, wenn Missy auch nur genickt hätte?
Was er möchte. Alles herauskotzen, was sich in seinem Bauch eingenistet hat, und ins Bett gehen. Irgendwann in seinem alten unmöglichen Leben aufwachen. Das möchte er.
Schließlich sagt sie: »Ich nehme an, wir könnten es versuchen.«
Er nickt.
Ist es das also? Ist es Mitgefühl für den anderen, ist das alles, woauf es tatsächlich ankommt? Zu lieben, zu vergeben, auszuharren?
Es ist nicht so einfach. Die Fähigkeit, jemand anderen ernst zu nehmen, sich vorzustellen, wie es ist, ein anderer Mensch zu sein , ist ein Teil des ganzen Durcheinanders. Für den einen oder anderen komischen Heiligen (falls es so etwas wie Heilige gibt) mag sie wesentlich sein, aber sie ist nur ein Aspekt des Lebens, dieses großen, unklaren, beschissenen, herzzerreißenden Lebens.
Trotzdem. Es ist nicht nichts.
Rebecca ist nicht mehr Galatea, sie ist nicht mehr Olympia. Die Zeit beraubt uns und beraubt uns wieder, und wenn wir um Gnade bitten, beraubt sie uns noch mehr. Hier ist ihr müdes Gesicht. Hier ist ihr künftiges Gesicht, eingefallen und fahl, das sich täglich einstellt, ein Gesicht, das (wie Peters) immer weniger dazu in der Lage sein wird, auch nur die Begeisterung eines glücklosen Mike Forth oder eines durchtriebenen, narzisstischen Missy zu
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