In die Nacht hinein: Roman (German Edition)
er eine arglose Zielstrebigkeit, die bei den bescheideneren Heiligen offenkundig gewesen sein muss. Matthew war so ganz und gar er selbst, so verzückt von seinen Interessen (mit fünfzehn: Filme, die Romane von Charles Dickens, Schlittschuhlaufen und die akustische Gitarre), so harmlos, so herzlich gleichgültig gegenüber jedem außer den beiden Mädchen, die seine einzigen Freunde waren, dass er zwar gelegentlich geneckt und genau einmal von einer Horde Siebtklässler, die sich einen Ruf verschaffen wollten, verprügelt wurde, doch nie das Ziel längerer Vernichtungsfeldzüge war, wie sie einige Jungs gegen die Handvoll wahrhaft Unglückseliger führten. Matthew war sicherlich auch aufgrund seines Schlittschuhläuferkörpers, der geballte Kraft andeutete (auch wenn er keine Ahnung hatte, wie man jemanden schlägt), zumindest relativ sicher, vor allem aber wegen seiner Freundschaft mit Joanna Hurst, einer gefeierten Schönheit. Er war, ob aus Berechnung oder spontan, seit der fünften Klasse der Freund und Vertraute dieses einflussreichen, begehrten Mädchens, und daher konnte er nach der zugegebenermaßen eher primitiven Einschätzung der Einheimischen als Sportler (Schlittschuhlaufen, aber dennoch) und Gefährte (nicht der geringste Sex zwischen ihnen, aber dennoch) durchgehen. Wenn Matthew auch der womöglich unmännlichste Mensch von Milwaukee war, besaß er doch zusehends etwas, was Peter nur als frühreife Grandezza bezeichnen kann. Aus Peters aufkommender Gefährlichkeit, die durch keine weiteren Attacken untermauert wurde, war inzwischen allgemein bekannter Missmut geworden, was seine Mutter weiter herabsetzte, indem sie ihn jedes Mal, wenn er in einer entsprechenden Laune war, Mr. Muffel nannte. Seine Haut brach auf, seine Haare wurden strähnig, und er stellte zu seiner eigenen Überraschung fest, dass er Mitglied einer kleinen Bande aufmüpfiger Jungs war, Außenseiter, die sich für Rockmusik und Star Trek begeisterten, weder bewundert noch verspottet, einfach in Ruhe gelassen. Matthew hingegen war prominent. Glamourös sogar. Er war klug, selten streitsüchtig, niemals schnippisch oder bockig, und selbst die mürrischsten und bedrohlichsten Jungs schienen ihn unterhaltsam zu finden. Er wurde zu einer Art Schulmaskottchen. Während der Pubertät behandelte er die anderen Familienmitglieder, Peter eingeschlossen, mit gutmütiger, wenn auch gelegentlich lustloser, abgeklärter Geduld, wie ein adeliges Kind, das zu einfachen Leuten geschickt wird, bis es bereit ist, seine wahre Stellung einzunehmen. Man konnte sich in seiner Gegenwart vorkommen wie ein grantiger, aber herzensguter Zwerg oder ein freundlicher alter Dachs.
Nachdem Peter seiner Gefährlichkeit beraubt worden war, erklärten er und Matthew einen unsicheren Waffenstillstand und begannen, nachts brüderliche Gespräche zu führen. Ihre Unterhaltungen waren breit gefächert, aber seltsam gleichbleibend. Jahrzehnte später kann Peter noch eine Meta-Unterhaltung aus Fetzen und Einzelteilen Hunderter von ihnen zusammenschustern.
»Ich glaube, Mom hat einfach genug«, sagt Matthew.
»Wovon?«
»Von allem. Ihrem Leben.«
Das ist halbplausibel. Ihre Mutter kann brüsk und aufbrausend sein, sie strahlt fast ständig eine beginnende Verzweiflung aus, aber Peter ist es schon immer so vorgekommen, als hätte sie »genug«, nicht nur von ihrem Leben, sondern von zahllosen Dingen: der Trägheit ihrer Söhne im Haushalt, dem unehrlichen und unfähigen Briefträger, den Steuern, den Regierungen, ihren sämtlichen Freundinnen, dem Preis von so gut wie allem.
»Warum glaubst du das?«
Matthew seufzt. Er hat einen langen, leisen und wegwerfenden Seufzer kultiviert, der entfernt an ein Holzblasinstrument erinnert.
»Sie sitzt hier fest«, sagt er.
»Yeah …«
Ich meine, wir sitzen hier alle fest, stimmt’s?
»Sie ist noch immer eine schöne Frau. Hier gibt’s nichts für sie. Sie ist wie Madame Bovary.«
»Wirklich?«
Peter hatte seinerzeit keine Ahnung, wer Madame Bovary war, aber er stellte sie sich als eine berüchtigte Gestalt vor, die Unheil verkündete – aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er sie mit Madame DeParge verwechselt.
»Meinst du, du könntest mit ihr über ihre Haare reden? Auf mich will sie nicht hören.«
» Nein . Ich kann mit Mom nicht über ihre Haare reden.«
»Wie läuft’s mit Emily?«
»Wie soll was laufen?«
»Komm schon.«
»Ich mag Emily nicht.«
»Warum nicht?«, sagt Matthew. »Sie ist schnuckelig.«
»Sie
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