In die Nacht hinein: Roman (German Edition)
Jugend. Peter bleibt noch einen Moment. Jetzt ist es klar. Missy ist Rebeccas Inkarnation: Die junge Rebecca, das strahlende, unverstellte Mädchen, das vor all den Jahren in Peters Seminar an der Columbia kam und ihm auf eine unbeschreibliche Art und Weise … vertraut vorkam. Es war nicht Liebe auf den ersten Blick, es war Wiedererkennen auf den ersten Blick. Missys Ähnlichkeit mit ihr war bis jetzt nicht so deutlich geworden, weil Rebecca sich verändert hat – Peter sieht jetzt, wie sehr. Sie hat (natürlich, wie auch nicht?) das unschuldige Werden hinter sich gelassen, diese Eigenschaft, noch nicht ganz ausgeformt zu sein, die wir spätestens mit Mitte zwanzig verlieren.
Peter hat ein schreckliches Bedürfnis, das Gesicht des Jungen zu berühren. Es nur zu berühren.
Holla.Was soll das?
Okay, es gibt schwule DNA in der Familie, und in der Schule hat er sich ständig mit Rick einen runtergeholt, und klar, er kann die Schönheit von Männern erkennen, es gab Momente (ein Teenager in einem Pool in South Beach, ein junger italienischer Kellner im Babbo), aber nichts ist passiert, und er hat es, soweit er das feststellen kann, nicht unterdrückt. Männer sind großartig (na ja, manche), aber sie sind nicht sexy.
Dennoch möchte er Missys Gesicht berühren. Es ist nichts Erotisches, nicht unbedingt. Er möchte diese schlummernde Vollkommenheit berühren, die nicht von Dauer ist, nicht von Dauer sein kann, aber hier, in diesem Moment, auf seiner Couch liegt. Nur um sie anzufassen, so wie der Gläubige das Gewand eines Heiligen berühren will.
Natürlich tut er es nicht. Als er aufsteht, knacken seine Knie. Missy schläft glücklicherweise weiter. Peter geht ins Schlafzimmer, zieht die Vorhänge zu, schaltet das Licht nicht ein. Er zieht sich aus und legt sich aufs Bett. Zu seiner Überraschung versinkt er fast augenblicklich in einen tiefen, dunklen Schlummer, in dem er von gepanzerten Männern träumt, die in Habtachtstellung im Schnee stehen.
Brudermord
Peter hat nur einmal versucht, seinen Bruder umzubringen, was unter Brüdern moderat ist. Er war sieben, demnach dürfte Matthew zehn gewesen sein.
Kleine Jungs sind meistens mädchenhaft; Matthews … Matthewhaftigkeit kam erst richtig zum Vorschein, als er etwas älter wurde. Mit zehn konnte er jeden Song (schlecht) singen, den Cat Stevens jemals aufgenommen hatte. Er bestand auf einem Paisleybademantel, den er im Haus ständig trug. Er schien sich zeitweise einen englischen Akzent zuzulegen. Ein Junge mit feinen Zügen, der in einem grünen, knapp knöchellangen Paisleybademantel durch die Zimmer eines behäbigen Natursteinhauses in Milwaukee ging und leise, wehmütig, eindeutig zum Mithören gedacht »Morning Has Broken« oder »Wild World« sang.
Ihre Eltern – Lutheraner, Republikaner, Mitglieder in diversen Clubs – quälten Matthew nicht, vielleicht weil sie vermuteten, dass die Welt ihn noch genügend quälen würde, oder vielleicht weil sie insgeheim an der Vorstellung festhalten wollten, dass ihr älterer Sohn ein Wunderkind war und seine wahllose, aber doch eigenwillige Begeisterungsfähigkeit mit der Zeit in eine beachtliche, lukrative Karriere münden würde. Ihre Mutter war eine gut aussehende, stramme Frau mit kräftiger Kinnlade, eine reine Schwedin, die sich am meisten davor fürchtete, betrogen zu werden, und die zutiefst davon überzeugt war, dass jeder sie betrügen wollte. Ihr Vater, gut aussehend, aber ein bisschen nichtssagend, vage finnisch, konnte sich nie ganz daran gewöhnen, dass er großes Glück gehabt hatte, als er ihre Mutter heiratete, und lebte in dieser Ehe wie ein verarmter Verwandter, der im Gästezimmer wohnt. Möglicherweise wollte sich ihre Mutter nicht um zwei gesunde, ganz und gar nicht beunruhigende Söhne von Wisconsin betrügen lassen, und ihr Vater spielte einfach mit. Jedenfalls waren sie nicht streng zu Matthew, aus welchen Gründen auch immer. Sie wandten nichts dagegen ein, als er in Knickerbockers zur Schule ging oder erklärte, dass er mit Eiskunstlaufen anfangen wolle.
Daher blieb es Peter überlassen, ihn zu quälen.
Peter fehlten die Konzentration und der Ehrgeiz eines echten Sadisten. Und er hasste Matthew auch nicht, zumindest nicht im wahrsten Sinn des Wortes.Allerdings befand er sich in seinen ersten Jahren fast ständig im Verteidigungszustand. Er wurde geliebt, konnte aber mit sechs nicht laut aus den Gesammelten Gedichten von Ogden Nash ihrer Eltern vorlesen, und mit sieben war er nicht
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