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In die Nacht hinein: Roman (German Edition)

In die Nacht hinein: Roman (German Edition)

Titel: In die Nacht hinein: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Cunningham
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könnte es mit Bildern von Vögeln verzieren. Dennoch waren die Bauteile – zwei Giebelwände und diverse Rechtecke, die Seitenwände, Boden und Dach werden sollten – im Moment so unscheinbar und wenig verheißungsvoll, dass er sich dabei ertappte, wie er gegen den Drang ankämpfte, hineinzugehen und zu schlafen. Das helle, biskuitartige Braun des Pressspans hätte die Farbe der Entmutigung selbst sein können.
    Doch er konnte nichts weiter tun, als anzufangen. Peter passte ein giebeliges Ende an ein Wandteil an, steckte eine Schraube in das vorgebohrte Loch und zog sie an.
    »Was machst du da?« Es kam von oben und hinten, mit einem ganz leichten Oxford-Akzent.
    Es konnte nicht sein. Niemand war daheim.
    Ohne aufzublicken, sagte Peter: »Was machst du hier?«
    »Mrs. Fletcher ist krank.Was machst du?«
    »Es ist eine Überraschung.«
    Er warf einen Blick zu Matthew. Matthews Gesicht war rot vor Kälte, was ihm ein engelsgleiches Strahlen verlieh. Er hatte einen leuchtend grünen Schal um den Hals gebunden.
    »Ist es ein Geschenk für Mom?«, fragte er.
    »Ich weiß es nicht.« Peter wandte sich wieder den Einzelteilen des Vogelhauses zu.
    Matthew beugte sich von hinten näher. »Schau an«, sagte er, »es ist ein kleines Haus.«
    Es ist ein kleines Haus. Fünf arglose Worte. Doch als Matthew sie mit beschwingter Präzision aussprach, wirbelte so etwas wie ein Strudel auf Peter herab, ein Trichter aus saurer Luft, der ihm den Atem raubte. Er war hier gefangen, an diese kalten Steine und dieses erbärmliche kleine Projekt festgepinnt; es gab keine Chance, keine Hoffnung für ihn, der es genoss, ein Diener zu sein, der ohne Genialität war, der zufrieden die belanglosesten Besorgungen erledigte. Er war von Matthew dabei ertappt worden, wie er ein kleines Haus bastelte, und er war für immer gedemütigt, er war ein dummes kleines Kind und würde es auch immer bleiben.
    Später wird er es lieber als eine Tat aus purer Wut in Erinnerung behalten, eine gedankenlose, instinktive Reaktion, tatsächlich aber geriet er in einen Zustand weißglühender Klarheit, in dem er begriff, dass er in diesem Moment nicht dableiben, es nicht überleben konnte, wenn Matthew ihm zuschaute und sagte: »Schau an, ein kleines Haus«, aber es gab kein Entrinnen, und deshalb musste er den Schraubenzieher nehmen und ein Loch in die Luft rund um Matthew stechen, durch das Matthew verschwinden würde. Peter drehte sich um und sprang mit dem Schraubenzieher in der Hand auf. Er erwischte Matthew an der Schläfe, zwei Zentimeter über seinem linken Auge. Er würde sein Leben lang dankbar sein, dass er seinem Bruder nur eine Narbe zugefügt und ihn nicht geblendet hatte.
     
    Obwohl sich nie wieder so etwas Dramatisches wie die Schraubenzieherattacke zutrug, schien sie Peters Ansehen zu Hause nachhaltig zu verändern. Er hatte sich als gefährlich, möglicherweise labil erwiesen, was einerseits unangenehm war, andererseits aber eine Verbesserung. Er hatte zumindest allen gezeigt, dass er ein böses Haustier war. Das Spiel mit dem Diener Giles wurde kommentarlos aufgegeben.
    Er und Matthew lebten danach noch mehrere Jahre zusammen, so wie vielleicht ein vermeintlich zahmer Fuchs mit einem Pfau leben könnte. Matthew war die meiste Zeit auf nervöse Art liebenswürdig zu Peter. Peter nutzte seinen neuen Vorteil meistens aus. Er war bis dahin nie auf den Gedanken gekommen, dass ihm eine einzige Gewalttat – mit einem Schraubenzieher , etwas, das jeder konnte – bei seinem Bruder, bei jedem, einen anhaltenden, bangen und widerwilligen Respekt eintragen würde. Peter wurde in einem gewissen Maße ein sieben Jahre alter General, freundlich auf eine wissende, heiter bedrohliche, fast galante Art, so als wäre Freundlichkeit ein einstweiliges Zugeständnis, das er einer brutalen und heuchlerischen Welt machte.
    Drei Jahre vergingen unter der Herrschaft von Peter dem Schrecklichen.
    Matthew mit fünfzehn.
    Eine große, leicht verträumte Gestalt, die mit schnellen Schritten an den Ziegel- und Steinfassaden von Milwaukee vorbeiläuft, Bücher an die Brust gedrückt. Unerklärlich optimistisch, häufig jedenfalls, doch als er vom Kind zum Jugendlichen heranwuchs, war er so vernünftig, sich eine gewisse Ironie zuzulegen. Von den einheimischen Schlägern verhöhnt, aber nicht mit dem Gift und der Hingabe, die man hätte erwarten können. Peter ist immer der Meinung gewesen, dass Matthew etwas Makelloses hatte. Obwohl er in keinster Weise heilig wirkte, besaß

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