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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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Nummern. Und er war nicht etwa irgendein Betrunkener, der mit seinem vermeintlichen Talent die Geduld seines Publikums strapazierte. »Alex«, stellt Borah klar, »konnte wirklich spielen. Ich meine er war gut. Wir waren alle völlig hingerissen von der Show.«
    Am Morgen des 15. April trafen sich alle am Silo, um McCandless Lebewohl zu wünschen. Sein Rucksack war schwer. In seinem Stiefel hatte er an die eintausend Dollar verstaut. Tagebuch und Fotoalbum ließ er zur Verwahrung bei Westerberg. Darüber hinaus schenkte er ihm den Ledergürtel, den er in der Wüste gefertigt hatte.
    »Alex hat immer an der Bar im Cabaret gesessen und stundenlang Geschichten aus dem Gürtel vorgelesen«, erzählt Westerberg, »so als ob er Hieroglyphen für uns übersetzen würde. Alle Bilder, die er ins Leder geritzt hat, haben ihre eigene, lange Geschichte gehabt.«
    Als McCandless Borah beim Abschied umarmte, erzählt sie, »hab ich gemerkt, daß er weint. Das hat mir einen Schrecken eingejagt. Denn so lange wollte er ja gar nicht wegbleiben. Ich hab dann gedacht, daß er bestimmt ein paar richtig riskante Sachen vorhatte und wußte, daß er vielleicht nicht wiederkommt, sonst hätte er ja wohl nicht geweint. Da hab ich zum erstenmal so ein ungutes Gefühl gekriegt, daß wir Alex nie wiedersehen.«
    Ein großer, traktorähnlicher Pick - up wartete mit laufendem Motor vor der Tür. Rod Wolf, einer von Westerbergs Angestellten, mußte eine Ladung Sonnenblumen-Saatgut nach Enderlin, North - Dakota, befördern und hatte versprochen, McCandless bis zur Bundesstraße 94 mitzunehmen.
    »Als ich ihn rausgelassen hab, hat ihm diese riesige verdammte Machete von der Schulter gehangen«, erzählt Wolf. »Ich hab noch gedacht: ›Mann, mit dem Ding nimmt den kein Mensch mit.‹ Aber ich hab dann nichts gesagt. Ich hab ihm einfach nur die Hand gedrückt, ihm viel Glück gewünscht und gesagt, daß er auf jeden Fall schreiben soll.«
    Und das tat McCandless dann auch. Eine Woche später erhielt Westerberg eine Postkarte mit einer kurzen Nachricht. Die Karte war in Montana abgestempelt worden:
    18. April:
    Bin heute morgen auf einem Güterzug in Whitefish angekommen. Komme gut voran. Heute werde ich mich über die Grenze schleichen. Dann heißt es Richtung Norden, nach Alaska. Grüße an alle.
    Alles Gute, Alex.
     
    Dann, Anfang Mai, erhielt Westerberg die nächste Karte, diesmal aus Alaska. Die Karte zeigte einen Eisbären. Der Stempel stammte vom 27. April 1992. »Grüße aus Fairbanks!« heißt es da:
    Dies wird meine letzte Nachricht an Dich sein, Wayne. Bin vor zwei Tagen hier angekommen. Das Trampen in der Gegend um den Yukon lief nicht so gut. Aber jetzt bin ich endlich hier.
    Schicke bitte all meine Post an den Absender zurück. Es kann noch lange dauern, bis ich wieder im Süden bin. Dieses Abenteuer geht vielleicht tödlich aus, und es kann sein, daß Du nie wieder von mir hören wirst. Ich möchte aber, daß Du weißt, wie sehr ich Dich bewundere. Ich breche nun in die Wildnis auf.
    Alex.
     
    Am selben Tag schickte McCandless eine Karte mit ähnlichem Inhalt an Jan Burres und Bob:
    Hallo Leute!
    Dies wird meine letzte Message an Euch sein. Ich breche jetzt auf und werde in der Wildnis leben. Paßt auf Euch auf, es war toll, Euch kennenzulernen.
    Alexander.

Alaska

    KAPITEL ACHT
    Vielleicht ist es schließlich doch die schlechte Angewohnheit schöpferischer Menschen, mit pathologisch anmutender Energie geistiges Neuland zu betreten. Die Erkenntnisse, zu denen sie dabei gelangen, sind oft bemerkenswert. Allerdings verhelfen sie nur jenen zu einer dauerhaften Existenz, denen es gelingt, sie in nennenswerte Kunst oder Gedankenwelten zu übertragen.
    THEODORE ROSZAK,
»IN SEARCH OF THE MIRACULOUS«
     
    Wir haben in Amerika die Tradition des »Großen doppelherzigen Stroms«: das Ritual besteht darin, daß man seine Wunden zur Heilung, zur Umkehr oder was auch immer in die Wildnis trägt. Und wenn, wie in der Hemingway-Geschichte, die Wunden nicht allzu tief gehen, klappt dies auch. Aber wir sind hier nicht in Michigan (und auch nicht in Faulkners »Big Woods« in Mississippi). Dies hier ist Alaska.
    EDWARD HOAGLAND,
»UP THE BLACK TO CHALKYITSIK«
      
      
    Als McCandless in Alaska tot aufgefunden wurde und die Medien von den verblüffenden Umständen seines Todes berichteten, dachten viele, daß der Junge geistig verwirrt gewesen sein mußte. Der Artikel über McCandless in Outside rief eine Flut von Leserbriefen hervor, und nicht

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