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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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Schönheit oder auf die Wahrheit. Ihnen müßte man sich in einer vollkommeneren und rücksichtsloseren Weise anvertrauen als in Friedenszeiten und im Alltagsleben, das es nicht mehr gibt.
    BORIS PASTERNAK,
»DOKTOR SCHIWAGO«
    Von Chris McCandless angestrichener Passus aus
 einem der Bücher, die unter seinen Habseligkeiten
 gefunden wurden. »Suche nach einem Sinn«
stand in seiner Handschrift am Seitenrand.
      
      
    Samuel Walter McCandless jun. ist ein sechsundfünfzig Jahre alter wortkarger Mann. Er trägt einen Bart, und sein halblanges, von silbernen Strähnen durchzogenes Haar ist glatt nach hinten gekämmt. Er ist groß und kräftig gebaut und macht einen intelligenten, gelehrten Eindruck, was nicht zuletzt an der Brille mit Drahtgestell liegt. Sieben Wochen sind vergangen, seit der Leichnam seines Sohnes in einem Schlafsack in Alaska aufgefunden wurde, den Billie aus vorgefertigten Teilen für Chris genäht hatte. Walter steht am Fenster seines Reihenhauses und blickt auf ein dahingleitendes Segelboot hinunter.
    »Wie ist es nur möglich«, fragt er sich laut, während er mit abwesenden Augen über die Chesapeake Bay hinwegblickt, »daß ein so einfühlsamer Junge wie Chris seinen Eltern solches Leid beschert?«
    Das Haus der McCandless' in Chesapeake Beach, Maryland, ist geschmackvoll eingerichtet. Mit seiner makellosen Sauberkeit zeugt es von peinlicher Ordnungsliebe. Die großen, vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster überblicken das diesige Buchtpanorama. Ein großer Chevrolet Suburban und ein weißer Cadillac stehen draußen vor der Tür, eine liebevoll restaurierte 69er Corvette in der Garage, und am Pier liegt ein zehn Meter langer, kreuzfahrttauglicher Katamaran vor Anker. Seit Tagen sind vier große viereckige Pinnwände mit zahllosen Fotos, die Chris' kurzes Leben dokumentieren, auf dem Eßtisch ausgebreitet.
    Billie geht bedächtig um den Tisch herum und weist auf ein Bild von Chris, der auf einem Schaukelpferdchen sitzt, dann auf Chris als neugierig gespannten Achtjährigen in einer gelben Regenjacke während seiner ersten Wandertour und schließlich auf Chris an seinem ersten High-School - Tag. »Am meisten schmerzt uns, daß er einfach nicht mehr da ist«, sagt Walt. In seiner Stimme liegt ein beinahe unhörbares Zittern. Er hält über einem Foto seines Sohnes inne, das ihn herumalbernd auf einem Familienurlaub zeigt. »Ich habe viel Zeit mit Chris verbracht, vielleicht mehr als mit den anderen Kindern. Ich war einfach sehr gern mit ihm zusammen, obwohl er uns so oft enttäuscht hat.«
    Walt trägt eine graue Jogginghose, Tennisschuhe und eine Baseballjacke aus Satin mit aufgesticktem Logo des Jet Propulsion Laboratory, einer Versuchswerkstatt für Düsenantriebssysteme. Trotz des sportlich - lässigen Outfits hat er unbestreitbar etwas Autoritäres an sich. In der Nomenklatura seines geheimnisumwitterten Forschungsfeldes - einer hochmodernen Technologie, die unter der Bezeichnung »Synthetic aperture radar«, kurz SAR, bekannt ist - steht er ganz oben. SAR ist seit 1978 fester Bestandteil der spektakulärsten Raumfahrtmissionen. Damals wurde der erste mit SAR bestückte Satellit, Seasat, in die Erdumlaufbahn gebracht. NASA - Projektleiter jenes bahnbrechenden Seasat-Starts war Walt McCandless.
    Die erste Zeile auf Walts Lebenslauf lautet: »Keine Angaben: Top Secret, U.S. Verteidigungsministerium.« Ein paar Zeilen darunter beginnt eine Darstellung seiner beruflichen Qualifikation: »Ich führe beratende Tätigkeiten im Bereich der Konstruktion von Telesensoren und Satellitensystemen durch sowie für damit verbundene Signalverarbeitungs - , Datenreduktions und Informationsgewinnungsprozesse.« Kollegen scheuen sich nicht, Walt McCandless brillant zu nennen.
    Walt ist es gewohnt, das Sagen zu haben. Ganz unbewußt, wie durch einen Reflex, ergreift er die Zügel. Obwohl er im sanften gelassenen Tonfall der Westküste spricht, unterliegt seiner Stimme eine gewisse Schärfe, und ein harter Zug um sein Kinn verrät eine unterschwellige nervöse Energie. Selbst von der anderen Seite des Raumes ist nicht zu übersehen, daß hier ein Mann vor einem steht, der unter ständiger Hochspannung steht. Es liegt auf der Hand, woher die Kraft und das Feuer in Chris stammte.
    Wenn Walt etwas sagt, hört man ihm zu. Falls ihm jemand oder etwas mißfällt, verengen sich seine Augen, und er wirkt plötzlich kurz angebunden. Aus dem entfernteren Familienkreis ist zu hören, daß er bisweilen

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