In die Wildnis
ein Reh und machte sein Junges zur Waise. Er war am Boden zerstört. Also brachte er das kleine Kitz mit heim und zog es im Haus groß, hinter dem Holzofen, so als war's eins seiner leiblichen Kinder.«
Um seine Familie zu ernähren, versuchte er sich in den verschiedensten unternehmerischen Unterfangen, die jedoch alle zum Scheitern verurteilt waren. Eine Weile züchtete er Hühner, dann Nerze und Chinchillas. Er zog einen Reitstall auf und vermietete Pferde an Touristen. Die meisten Mahlzeiten setzten sich aus dem zusammen, was er auf der Jagd erbeuten konnte - obwohl ihm das Töten von Tieren gegen den Strich ging. »Mein Vater hat jedesmal geweint, wenn er ein Reh schoß«, weiß Billie noch, »aber wir brauchten was zu essen, also hat er es getan.« Er arbeitete auch als Jagdführer, was ihn noch mehr peinigte. »Reiche Hobbyjäger aus der Stadt kamen in ihren dicken Cadillacs vorgefahren, und mein Vater führte sie für eine Woche auf seine Jagdhütte hinauf, damit sie sich zu Hause irgendein Geweih an die Wand hängen konnten. Er garantierte jedem, der kam, einen Rehbock, aber die meisten von ihnen waren fürchterlich schlechte Schützen. Darüber hinaus tranken sie so viel, daß sie sowieso nichts getroffen hätten. Normalerweise mußte er ihnen also ihren Bock abknallen. Gott, wie er das haßte.«
Ganz klar, daß Loren von Chris eingenommen war. Und Chris liebte seinen Großvater über alles. Die hinterwäldlerische Schläue des alten Mannes und seine Liebe zur Natur hinterließen einen bleibenden Eindruck auf den Jungen.
Als Chris acht Jahre alt war, nahm Walt ihn auf seine erste größere Wandertour mit. In einem Drei - Tage - Trip im Shenandoah - Nationalpark bestiegen sie zusammen den Old Rag. Sie schafften es tatsächlich bis zum Gipfel, und Chris hatte bis zuletzt seinen Rucksack allein getragen. Von da an wurde es zwischen Vater und Sohn zur Tradition, den Berg zu besteigen. Beinahe jedes Jahr wanderten sie den Old Rag hoch.
Als Chris etwas älter war, nahm Walt Billie und die Kinder aus beiden Ehen mit nach Colorado, um den Longs Peak zu besteigen - mit 4345 Metern der höchste Gipfel im Rocky - Mountain - Nationalpark. Als Walt, Chris und Walts jüngster Sohn aus seiner ersten Ehe das Keyhole erreichten, einen aus der Bergwand hervorspringenden Engpaß in knapp viertausend Meter Höhe, beschloß Walt umzukehren. Er war erschöpft und spürte die Höhenluft. Der Rest der Strecke wirkte steinig, zerklüftet und gefährlich. »Ich war total fertig«, erklärt Walt, »aber Chris wollte unbedingt auf den Gipfel. Ich hab ihm gesagt, nie und nimmer. Er war damals erst zwölf, mehr als herumnörgeln konnte er also nicht. Wenn er vierzehn oder fünfzehn gewesen wäre, wäre er einfach ohne mich weitergegangen. « Walt hält plötzlich ein und schaut mit abwesendem Blick in die Ferne. »Chris kannte schon als kleiner Junge keine Angst«, sagt er nach langem Schweigen. »Er hat nie geglaubt, daß es ihn irgendwie erwischen könnte, auch nicht wenn er Dinge tat, die wirklich riskant waren. Wir waren immer damit beschäftigt, ihn vorm Abgrund zu bewahren.«
Chris war in beinahe allem, was er anfaßte, erfolgreich. Von der Schule und der Uni brachte er am laufenden Band Einser nach Hause. Nur einmal hatte er eine schlechtere Note als eine Zwei: eine Sechs in Physik auf der High School. Als Walt das Zeugnis sah, bat er den Physiklehrer um einen Termin, um herauszufinden, wo das Problem lag. »Er war ein pensionierter Oberst der Luftwaffe«, weiß Walt noch, »er war schon etwas älter, erzkonservativ und ziemlich unflexibel. Am Anfang des Schuljahres hatte er den Schülern erklärt, er habe zweihundert Schüler, Laborprotokolle sollten also alle in einem bestimmten Format abgefaßt sein, damit er sie leichter korrigieren konnte. Chris fand, daß die Vorschrift dumm und unnötig war, und hat sich deshalb nicht dran gehalten. Also hat er seine Protokolle zwar geschrieben, aber nicht im richtigen Format, und der Lehrer gab ihm eine Sechs. Nachdem ich mit dem Mann gesprochen hatte, kam ich nach Hause zurück und sagte zu Chris, daß er nun die Note bekommen hat, die er verdient.«
Chris und Carine hatten Walts musikalische Begabung geerbt. Chris spielte Gitarre, Klavier und Waldhorn.
»Auch wenn man es sich bei einem Kind seines Alters kaum vorstellen kann«, erzählt Walt, »aber er war ganz vernarrt in Tony Bennett. Er hat Nummern wie ›Tender is the Night‹ gesungen, und ich habe ihn dazu auf dem Klavier
Weitere Kostenlose Bücher