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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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»weil damit zusätzliche Hausaufgaben verbunden waren. Also hat er eine Woche lang versucht, sich aus dem Programm wieder hinauszuwinden. Dieser kleine Junge ging also hin und versuchte, den Lehrer, den Direktor - jeden, der ihm Gehör schenkte - davon zu überzeugen, daß die Testergebnisse nicht stimmten, daß er eigentlich gar nicht dort hingehörte. Wir haben erst auf einem Elternabend davon erfahren. Seine Lehrerin nahm uns beiseite und sagte uns, daß ›Chris nach einer anderen Musik tanzt‹. Sie schüttelte nur den Kopf.«
    »Selbst als wir noch klein waren«, erzählt Carine, die drei Jahre nach Chris geboren ist, »war er gerne für sich. Nicht daß er abweisend oder ein Eigenbrötler gewesen wäre - er hatte immer Freunde, und alle mochten ihn - , aber er konnte sich eben auch gut allein unterhalten, und zwar stundenlang. Er brauchte keine Freunde oder Spielsachen, zumindest erweckte er diesen Eindruck. Er konnte allein sein, ohne sich einsam zu fühlen.«
    Als Chris sechs war, wurde Walt ein Posten bei der NASA angeboten, und die Familie zog in die Hauptstadt um. Die Familie kaufte ein geräumiges, mehrstöckiges Haus mit grünen Fensterläden, Erkerfenster und einem hübschen Garten am Willet Drive in Annandale, einem Vorort von Washington. Vier Jahre nach dem Umzug nach Virginia gab Walt seinen Job bei der NASA auf und gründete eine Beraterfirma - User Systems, Incorporated - , die Billie und er von zu Hause aus führten.
    In der Anfangszeit fehlte es überall an Geld. Die Familie hatte ein regelmäßiges Gehalt gegen die Unwägbarkeiten eines selbständigen Unternehmens eingetauscht. Hinzu kam, daß Walt wegen der Scheidung von seiner ersten Frau praktisch für den Unterhalt von zwei Familien aufkommen mußte. »Damit das Ganze auch klappte, haben Mom und Dad Tag und Nacht gearbeitet. Wenn Chris und ich morgens aufstanden, um zur Schule zu gehen, waren sie im Büro bei der Arbeit. Wenn wir nachmittags heimkehrten, waren sie im Büro bei der Arbeit. Wenn wir nachts schlafen gingen, waren sie im Büro bei der Arbeit. Sie haben eine wirklich tolle Firma aufgebaut, und irgendwann haben sie damit auch haufenweise Geld verdient, aber sie haben die ganze Zeit non - stop gearbeitet.«
    Es war eine schwierige Zeit. Walt und Billie sind beide von impulsivem, leicht erregbarem Wesen. Beide geben nur ungern nach, und es blieb nicht aus, daß ihre Temperamente in hitzigen Wortgefechten aufeinanderprallten. Im Eifer des Gefechts drohte der eine dem anderen häufig mit Scheidung. Die Streitereien schienen oft schlimmer, als sie tatsächlich waren, meint Carine, aber »ich glaube, daß sie einer der Gründe dafür waren, daß Chris und ich uns so nahestanden. Wir wußten, wir konnten uns aufeinander verlassen, wenn Mom und Dad aneinandergerieten.«
    Aber es gab auch gute Zeiten. An den Wochenenden und in den Schulferien machten sie Familienausflüge: Sie fuhren nach Virginia Beach und an den Strand von Carolina oder auch nach Colorado, um Walts Kinder aus seiner ersten Ehe zu besuchen, zu den Großen Seen und zu den Blue Ridge Mountains in den Appalachen. »Wir haben dann die Ladefläche unseres Pick - up - ein Chevy Subarban - zum Wohnwagen umgebaut«, erzählt Walt. »Später haben wir einen Airstream - Wohnwagen gekauft und sind mit dem gefahren. Chris war verrückt nach diesen Reisen, je länger desto besser. In unserer Familie herrschte immer ein gewisses Fernweh, und schon früh war klar, daß Chris es geerbt hatte.«
    Im Laufe ihrer Reisen besuchte die Familie auch Iron Mountain in Michigan, eine kleine Bergbaustadt in den Waldgebieten der Halbinsel zwischen dem Lake Superior und dem Huronsee, wo Billie unter fünf anderen Geschwistern aufgewachsen war. Loren Johnson, Billies Vater, war offiziell Fernfahrer, »aber er hat es nie lange bei einer Stelle ausgehalten«, erzählt sie.
    »Billies Vater hat sich nie wirklich in die Gesellschaft einordnen können«, fügt Walt erklärend hinzu. »Er und Chris hatten viel gemein.«
    Loren Johnson war stolz, stur und verträumt: Er war ein Kenner des Waldes, selbstgelernter Musiker und Dichter. In der Gegend von Iron Mountain war sein Verhältnis zu den Kreaturen des Waldes schon legendär. »Er hatte immer irgendwelche Tiere, die er auf zog«, erzählt Billie.
    »Wenn er auf ein Tier mit einem Fangeisen stieß, nahm er es mit nach Hause, amputierte das verletzte Bein, pflegte es gesund und setzte es dann wieder aus. Einmal überfuhr mein Vater mit seinem Pick - up

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