Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
Vom Netzwerk:
sogar Auszüge seines Tagebuchs abgedruckt. Folglich erhielten die Troopers massenweise Anrufe von Leuten, die alle behaupteten, den Jungen zu kennen, und waren noch kürzer angebunden als bei Galliens Anruf. »Der Bulle am Telefon hat gemeint, daß sie mittlerweile Anrufe von hundertfünfzig Leuten gehabt hätten, die geglaubt haben, Alex ist ihr Kind, ihr Freund, ihr Bruder«, erzählt Westerberg. »Na ja, jedenfalls ist er mir mit seiner Art ziemlich schnell auf den Sack gegangen und ich hab dem Typen gesagt: › Hören Sie, ich bin nicht irgendein Spinner. Ich weiß, wer er ist. Er hat für mich gearbeitet. Wenn mich nicht alles täuscht, dann muß hier sogar irgendwo noch seine Sozialversicherungsnummer rumfliegen.‹«
    Westerberg wühlte die Aktenordner vom Getreidesilo durch und fand schließlich zwei von McCandless ausgefüllte Steuerformulare. Auf dem einen, das noch von McCandless' allererstem Aufenthalt in Carthage 1990 stammte, hatte er oben drüber »Befreit Befreit Befreit Befreit« gekritzelt: Seinen Namen hatte er mit Iris Fucyu angegeben. Adresse: »Geht Euch nix an.« Sozialversicherungsnummer: »Hab ich vergessen.«
    Aber auf dem zweiten Formular, das vom 30. März '92 stammte, also zwei Wochen vor seinem Aufbruch nach Alaska, hatte er seinen richtigen Namen angegeben:
    »Chris J. McCandless.« Und in dem Kästchen für die Sozialversicherungsnummer hatte er die Nummer »228 - 31 - 6704« eingetragen. Westerberg rief wieder in Alaska an. Diesmal nahmen die Troopers ihn ernst.
    Wie sich herausstellte, war die Sozialversicherungsnummer echt: McCandless hatte einen ständigen Wohnsitz im Norden Virginias. Die Behörden in Alaska setzten sich mit den zuständigen Stellen in Virginia in Verbindung, die wiederum die Telefonbücher wälzten und nach Eintragungen unter dem Namen McCandless suchten. Walt und Billie McCandless waren inzwischen an die Küste von Maryland gezogen und somit aus den Verzeichnissen gestrichen worden. Aber Walts ältester Sohn aus seiner ersten Ehe wohnte in Annandale und stand im Telefonbuch. Am späten Nachmittag des 17. September erhielt Sam McCandless einen Anruf von einem Kommissar der Fairfax - County - Mordkommission.
    Sam, der neun Jahre älter als Chris war, hatte ein paar Tage zuvor in der Washington Post einen kurzen Artikel über den Traveller gelesen. Wie er zugibt, wäre ihm jedoch nie in den Sinn gekommen, »daß der junge Wanderer vielleicht Chris sein könnte. Daran habe ich nicht im entferntesten gedacht. Das Ironische daran ist, daß ich, als ich den Artikel las, noch gedacht habe: ›O mein Gott, was für eine Tragödie. Die Familie des Jungen kann einem aber leid tun, auch wenn ich sie nicht kenne. Was für eine traurige Geschichte.‹«
    Sam war bei seiner Mutter in Kalifornien und Colorado aufgewachsen und erst '87 nach Virginia gezogen, als Chris den Bundesstaat schon längst verlassen hatte, um in Atlanta zu studieren. Sam kannte seinen Halbbruder also kaum. Als aber der Beamte der Mordkommission fragte, ob ihm der Traveller irgendwie bekannt vorkäme, erzählt Sam, »war ich ziemlich sicher, daß es Chris war. Die Tatsache, daß er nach Alaska gegangen war, und zwar allein - das paßte alles.«
    Auf Bitten des Beamten machte sich Sam ins Revier der Fairfax County Police auf, wo man ihm ein Foto des Travellers zeigte, das aus Fairbanks gefaxt worden war. »Es war eine Vergrößerung, achtzehn mal vierundzwanzig«, weiß Sam noch, »nur der Kopf. Er hatte langes Haar und trug einen Bart. Chris hatte fast immer kurzes Haar gehabt und sich regelmäßig rasiert. Hinzu kam, daß das Gesicht auf dem Bild sehr hager war. Aber ich hab ihn gleich erkannt. Es gab keinen Zweifel. Es war Chris. Ich bin nach Hause gefahren, hab Michele, meine Frau, abgeholt und bin nach Maryland rausgefahren, um es Dad und Billie zu sagen. Ich wußte nicht, wie ich es ihnen sagen sollte. Wie bringt man jemandem bei, daß sein Kind tot ist?«

Chesapeake Beach

    KAPITEL ELF
    Mit einem Schlag hat sich alles verwandelt, der Ton und die Luft, man weiß nicht mehr, was man denken und auf wen man hören soll. Es ist, als wärst du dein Lebtag wie ein kleines Kind an der Hand geführt worden, und plötzlich läßt man dich los und sagt: Lerne allein gehen! Und es gibt niemanden mehr in deiner näheren und ferneren Umgebung, keine Familie, keine Autorität. Jetzt, da die menschlichen Einrichtungen zusammengebrochen sind, müßte man sich auf das Wesentliche stützen, auf die Lebenskraft, die

Weitere Kostenlose Bücher