In die Wildnis
sofort rauskriegen, wo er ist, dorthin fliegen und versuchen, ihn heimzuholen.«
Walt streitet dies nicht ab. »Keine Frage«, sagt er.
»Wenn wir irgendeinen Hinweis gehabt hätten, wo wir suchen müssen - klar - , ich wäre auf dem schnellsten Wege dorthin gefahren, hätte rausgekriegt, wo er steckt, und dann hätte ich unseren Sohn nach Hause gebracht.«
Als ganze Monate ohne Nachricht von Chris verstrichen - und dann Jahre - , wurde aus Sorge qualvolle Angst. Billie verließ nie das Haus, ohne einen Zettel mit einer Nachricht für Chris an die Tür zu kleben. »Jedesmal, wenn wir im Auto unterwegs waren und einen Anhalter gesehen haben«, erzählt sie, »der Chris irgendwie ähnlich sah, haben wir gewendet und sind zurückgefahren. Es war eine schreckliche Zeit. Nachts war es am schlimmsten, vor allem wenn es kalt war und draußen stürmte. Man fragt sich: ›Wo ist er? Ist ihm warm genug? Ist er verletzt? Ist er einsam? Geht es ihm gut?‹«
Juli 1992, Chesapeake Beach, zwei Jahre nachdem Chris Atlanta verlassen hatte: Billie liegt schlafend im Bett. Plötzlich, mitten in der Nacht, fährt sie hoch und weckt Walt. »Ich hatte gehört, wie Chris mich ruft. Ich war absolut sicher«, beteuert sie unter Tränen. »Ich weiß nicht, wie ich jemals darüber hinwegkommen soll. Ich habe nicht geträumt. Ich habe nicht phantasiert. Ich habe seine Stimme gehört! Er flehte um Hilfe: ›Mom! Hilf mir!‹ Aber ich konnte ihm nicht helfen. Ich hab ja nicht gewußt, wo er ist. Und mehr hat er nicht gesagt, nur: ›Mom! Hilf mir!‹«
Virginia Beach
KAPITEL DREIZEHN
Kraft und Kühnheit der Landschaft spiegelten sich in mir wider.
Die Wege, die ich mir bahnte, führten hinaus in die Berge und Sümpfe, aber ebenso führten sie nach innen. Ich erforschte die einfachsten Dinge um mich herum, las viel, dachte lange über das Gelesene nach und gelangte so zu einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit mir und der Landschaft. Mit der Zeit verschmolz beides zu einer Einheit.
Mit zunehmender Heftigkeit kristallisierte sich in mir eine leidenschaftliche, unbeirrbare Sehnsucht heraus - das Denken und all die sich daraus ergebenden Komplikationen für immer hinter mir zu lassen und mich nur noch von den unmittelbaren Bedürfnissen leiten zu lassen.
Einfach drauflosgehen, die Augen in die Ferne gerichtet. Ob zu Fuß, in Schneeschuhen oder mit dem Schlitten in die sommerlichen Hügellandschaften und ihren kühlen, spätabendlichen Schatten hinein - eine Baummarkierung oder Laufspuren im Schnee verrieten meine Wege. Soll der Rest der Menschheit mich doch finden, wenn er kann.
JOHN HAJNES,
»THE STARS, THE SNOW, THE FIRE:
TWENTY - FIVE YEARS IN THE
NORTHERN WILDERNESS«
Auf dem Kaminsims in Carine McCandless' Haus in Virginia Beach stehen zwei gerahmte Fotos: Das eine zeigt Chris in seinem ersten Jahr auf der High - School, das andere zeigt ihn als Siebenjährigen. Auf dem zweiten Bild, das an einem Osterwochenende geknipst wurde, steht er in einem winzigen Kinderanzug mit schief sitzender Krawatte neben Carine, die ein mit Rüschen besetztes Kleid und einen neuen Hut trägt. »Das Erstaunliche ist«, sagt Carine, die Augen auf die Bilder ihres Bruders geheftet, »daß, obwohl die Bilder im Abstand von zehn Jahren aufgenommen sind, der Gesichtsausdruck derselbe geblieben ist.«
Es stimmt: Auf beiden Fotos schaut Chris mit dem gleichen nachdenklichen, störrischen Blick in die Kamera, so als wäre er gerade dabei, einen wichtigen Gedanken zu fassen, und ärgert sich nur darüber, seine Zeit mit Fotografiertwerden zu verschwenden. Sein Ausdruck ist vor allem auf dem Osterfoto auffällig, weil er in so krassem Gegensatz zu Carines freudestrahlendem Lächeln steht.
»Das ist Chris«, sagt sie mit zärtlichem Lächeln. Sie streicht mit den Fingerspitzen über das Bild. »So hat er ganz oft geschaut.«
Zu Carines Füßen liegt Buckley, der Shetland - Collie, an dem Chris so hing. Er ist mittlerweile dreizehn Jahre alt und um die Schnauze herum schon ganz weiß. In einem Bein hat er Arthritis und hinkt. Wenn jedoch Max, Carines achtzehn Monate alter Rottweiler, in Buckleys Revier eindringt, zögert der kleine, sieche Buck keine Sekunde, das viel größere Tier mit einem lauten Bellen und ein paar kurzen, wohlplazierten Beißattacken anzugehen. Der einhundertdreißig Pfund schwere Rottweiler eilt erschrocken davon.
»Chris war ganz vernarrt in Buck«, erzählt Carine. »In dem Sommer, in dem er verschwunden ist, wollte
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