In die Wildnis
genügen konnte.
Seltsamerweise scherte er dabei jedoch nicht alle über einen Kamm. Beispielsweise war einer der Menschen, die er in den letzten beiden Jahren seines Lebens aufrichtig zu bewundern vorgab, ein schwerer Alkoholiker und unverbesserlicher Schürzenjäger, der seine Freundinnen regelmäßig verprügelte. Chris war sich der charakterlichen Mängel dieses Mannes sehr wohl bewußt, störte sich aber nicht weiter daran. Auch war es ihm möglich, die menschlichen Schwächen seiner literarischen Vorbilder zu entschuldigen oder sie geflissentlich zu übersehen: Jack London war ein notorischer Trinker; Tolstoi war trotz seines vielbeachteten, öffentlichen Eintretens für Keuschheit als junger Mann ein richtiger Schürzenjäger, der mindestens dreizehn Kinder zeugte. Einige davon entstanden just zu jener Zeit, als der gestrenge Graf in seinen Schriften gegen die sündige Fleischeslust wetterte.
Wie viele Leute, so beurteilte auch Chris Künstler und enge Freunde anhand ihrer Werke und nicht ihrer Lebensführung. Dennoch war er nicht in der Lage, diese Nachsicht auch auf seinen Vater auszudehnen. Wenn Walt McCandless in seiner unnachgiebigen Art gegenüber Chris, Carine oder einer ihrer Halbgeschwister eine Rüge aussprach, dann dachte Chris an das wahrlich nicht tadellose Verhalten seines Vaters vor vielen Jahren und verdammte ihn insgeheim als schamlosen Heuchler.
Chris führte über jedes begangene Unrecht sorgfältig Buch. Und mit der Zeit steigerte er sich in einen Zustand selbstgerechter Entrüstung, dem er irgendwann Luft verschaffen mußte.
Nachdem Chris die Details von Walts Scheidung ausgegraben hatte, vergingen zwei Jahre, bis seine Wut nach außen drang. Der Junge konnte seinem Vater die Fehler, die er als junger Mann begangen hatte, nicht verzeihen, und schon gar nicht den Versuch, das Geschehene totzuschweigen. Später erklärte er gegenüber Carine und anderen, daß ihm angesichts des von Walt und Billie gesponnenen Lügennetzes seine »ganze Kindheit wie eine bloße Fiktion erscheint«. Aber er konfrontierte seine Eltern nicht mit seinen Kenntnissen, weder damals noch später. Statt dessen machte er aus seinem Wissen um die Vergangenheit ein düsteres Geheimnis und versteckte seine Wut, fraß sie stumm in sich hinein und zog sich mürrisch in sich selbst zurück.
Aber Chris nahm nicht nur seinen Eltern gegenüber eine immer unversöhnlichere Haltung an. Auch seine Empörung über das allgemeine Unrecht in der Welt wuchs ins Maßlose. Im Sommer 1988 fing Chris, wie Billie noch weiß, an, »sich über all die reichen Söhne und Töchter auf Emory zu beschweren«. Mehr und mehr bevorzugte er Seminare, die sich mit den sozialen Problemen dieser Welt - Rassismus, Welthunger und ungerechte Verteilung des Reichtums - auseinandersetzten. Aber trotz seiner Aversion gegen Geld und Konsum ist seine politische Haltung kaum als liberal zu bezeichnen.
Tatsächlich hatte er einen Riesenspaß dabei, sich über das politische Programm der Demokratischen Partei lustig zu machen. Chris war ein lautstarker Ronald - Reagan - Anhänger. In Emory ging er sogar soweit, sich an der Gründung eines republikanischen College - Clubs zu beteiligen. Seine scheinbar widersprüchlichen politischen Ansichten lassen sich am besten mit einem Ausspruch aus Thoreaus »Zivilem Ungehorsam« resümieren: »Mit ganzem Herzen willige ich in das Motto ein - ›Die beste Regierung ist die, welche am wenigsten regierte.‹« Darüber hinaus ist sein politisches Weltbild zu diffus, um es in Worte zu fassen.
Als stellvertretender Leitartikler des Emory Wheel verfaßte er zahllose Kommentare zum Zeitgeschehen. Wer diese Artikel heute, ein halbes Jahrzehnt später, liest, dem fällt sofort auf, wie jung und leidenschaftlich McCandless damals war. Seine mit eifernder Logik vorgetragenen Ansichten zielen in alle Richtungen. Er karikierte Jimmy Carter und Senator Joe Biden, forderte den Rücktritt von Justizminister Edwin Meese, fiel über die neue christliche Rechte und ihre bibelschwingenden Jünger her, mahnte zur Wachsamkeit gegen die sowjetische Bedrohung, drosch auf die Japaner ein, weil sie Wale jagten, und verteidigte Jesse Jackson als Präsidentschaftskandidaten der Zukuft. In einer in typisch überdrehtem Ton verfaßten Erklärung vom 1.März 1988 lautet die Eröffnungszeile von McCandless' Leitartikel: »Heute bricht der dritte Monat des Jahres 1988 an, das auf dem besten Wege ist, als eines der politisch korruptesten und
Weitere Kostenlose Bücher