In die Wildnis
er Buck mitnehmen. Er war gerade mit der Uni fertig, und da hat er Mom und Dad gefragt, ob er Buck zu sich holen kann, aber sie haben nein gesagt. Buckley war gerade von einem Auto angefahren worden und noch nicht wieder ganz auf dem Damm. Jetzt tut ihnen die Entscheidung natürlich ein wenig leid, aber Buck hatte wirklich schwer was abgekriegt. Der Tierarzt hat nach dem Unfall gemeint, daß Buck nie wieder laufen wird. Meinen Eltern spukt immer noch die Frage im Kopf rum - und ich geb zu, mir auch - , wie die Dinge wohl gelaufen wären, wenn Chris Buck mitgenommen hätte. Chris dachte sich nichts dabei, sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, aber nie und nimmer hätte er Buckley in Gefahr gebracht. Er wäre auf gar keinen Fall die gleichen Risiken eingegangen, wenn Buck dabeigewesen wäre.«
Carine ist etwas über einssiebzig und damit genauso groß wie ihr Bruder, vielleicht ein, zwei Zentimeter größer. Sie sieht ihm so ähnlich, daß sie öfters gefragt wurden, ob sie Zwillinge seien. Sie erzählt sehr lebendig, und wenn sie spricht, zerteilt sie mit kleinen, ausdrucksstarken Händen die Luft, um dies oder jenes zu betonen. Sie hat langes, bis an die Hüfte reichendes Haar und wirft immer wieder den Kopf zurück, um es sich aus dem Gesicht zu halten. Sie ist barfuß. An ihrem Hals baumelt ein goldenes Kreuz. Ihre Jeans sind sauber gebügelt, mit nach vorn abstehender Bügelfalte.
Carine ist, wie Chris, energiegeladen, selbstsicher und sehr ausdauernd. Sie ist es gewohnt, immer offen ihre Meinung zu sagen, und als Heranwachsende hatte auch sie heftige Auseinandersetzungen mit Walt und Billie. Dennoch sind die Unterschiede zwischen den beiden Geschwistern größer als die Gemeinsamkeiten.
Carine schloß mit ihren Eltern kurz nach Chris' Verschwinden Frieden, und jetzt, mit zweiundzwanzig Jahren, bezeichnet sie ihr Verhältnis als »besonders gut«. Sie ist um vieles geselliger als Chris und kann sich nicht vorstellen, einfach so alleine in die Wildnis hinauszuziehen - oder überhaupt ohne Begleitung zu verreisen. Und obwohl sie Chris' Empörung über Rassendiskriminierung teilt, ist Reichtum für sie nichts Verwerfliches. Erst kürzlich erwarb sie für viel Geld ein neues Haus. Sie klotzt regelmäßig Vierzehn - Stunden - Tage bei C.A.R. Services, Inc., der Autoreparaturfirma, die sie zusammen mit ihrem Mann, Chris Fish, führt. Carine hofft, daß sie ihre erste Million noch als junge Frau verdient.
»Ich hab Mom und Dad früher immer damit genervt, daß sie die ganze Zeit arbeiten und nie da sind«, sinniert sie mit einem selbstironischen Lächeln, »und jetzt schauen Sie mich an: Ich bin genauso.« Chris hat sie immer wegen ihres kapitalistischen Eifers aufgezogen, wie sie gesteht, und sie die Herzogin von York, Ivana Trump McCandless und »die zukünftige Leona Helmsley genannt«. Die Kritik an seiner Schwester ging jedoch nie über liebevolle Neckereien hinaus. Chris und Carine standen sich ungewöhnlich nah. In einem Brief, in dem Chris ihr den Krach mit Walt und Billie darlegte, schrieb er ihr einmal: »Wie auch immer, ich erzähle Dir davon, weil Du der einzige Mensch auf Erden bist, der überhaupt versteht, worum es mir bei dem Ganzen geht.«
Zehn Monate nach Chris' Tod trauert Carine noch immer um ihren Bruder. »Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht weine«, sagt sie mit verwirrtem Blick. »Ich weiß nicht, warum, aber am schlimmsten ist es, wenn ich allein im Wagen sitze. Die Fahrt ins Geschäft dauert zwanzig Minuten, und ich habe es bisher nicht ein einziges Mal geschafft, nicht an Chris zu denken und loszuheulen. Ich fang mich dann zwar wieder, aber trotzdem, wenn es passiert, ist es schlimm.«
Am Abend des 17. September 1992 badete Carine gerade im Freien ihren Rottweiler, als Chris Fish die Auffahrt hochgefahren kam. Sie war überrascht, weil es noch so früh war. Fish arbeitete normalerweise bis spät in die Nacht bei C.A.R. Services.
»Er war irgendwie komisch«, weiß Carine noch. »Er wirkte ganz verstört. Er ist reingegangen, kam dann wieder raus und fing an, mir mit Max zu helfen. Da wußte ich, irgendwas stimmt nicht. Fish wäscht sonst nämlich nie den Hund.«
»Ich muß mit dir reden«, sagte Fish. Carine folgte ihm ins Haus, spülte noch kurz Max' Halsbänder in der Küche ab und ging ins Wohnzimmer. »Fish saß im Dunkeln auf dem Sofa. Er wirkte ganz geknickt. Ich wollte einen Scherz machen, um ihn aufzumuntern, und sagte: ›Was hast du denn?‹ Ich dachte, bestimmt haben die
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