In die Wildnis
Knien weich werden. Den Bewegungen fehlt noch der nötige Fluß, und man zögert oft. Aber dann, im Laufe des Aufstiegs, gewöhnt man sich an den schwindelerregenden Abgrund, an die eigene Schutzlosigkeit und daran, Schulter an Schulter mit dem Tod zu stehen. Man beginnt seinen Händen und Füßen zu vertrauen und verläßt sich zunehmend auf seinen Verstand. Das Zutrauen in die eigene Körperbeherrschung wächst, je weiter man vorankommt.
Nach und nach versinkt man so tief in die sich wiederholenden Bewegungsabläufe, daß man die blutigen Fingerknöchel, die von Krämpfen durchzuckten Oberschenkel, den Druck der pausenlosen Anspannung nicht mehr bemerkt. Das ganze Schinden und Schuften geht in einem tranceähnlichen Zustand auf, und der Aufstieg wird zu einem kristallklaren Wachtraum. Stunden scheinen im Minutentakt zu vergehen. Der angestaute Frust des Alltags - die kleinen Mißverständnisse, die unbezahlten Rechnungen, die verpatzten Gelegenheiten, der Staub unterm Sofa, das unentrinnbare Gefängnis der eigenen Gene - , all dies ist für kurze Zeit wie weggeblasen. Es verschwindet vor der überwältigenden Klarheit des Ziels und dem Ernst der zu bewältigenden Aufgabe.
In solchen Momenten spürt man tatsächlich so etwas wie Glück in sich aufsteigen, ein Gefühl, auf das man sich jedoch nicht allzusehr verlassen sollte. Eine Alleinbesteigung wird vor allem von einer gehörigen Portion Chuzpe zusammengehalten, nicht gerade das verläßlichste Bindemittel. Spät am Nachmittag spürte ich, wie sich jener Klebstoff unter einem einzigen Schwung eines Eispickels auflöste.
Seit ich den Hängegletscher hinter mir gelassen hatte, hatte ich fast zweihundertfünfzig Meter an Höhe gewonnen, und zwar lediglich mit den Steigeisen unter den Schuhen und den Schwüngen meiner Eispickel. Das Eisband ging nach einhundert Metern in eine bröckelige Schicht aus angereimtem Rauhfrost über, der in etwa die Festigkeit von Gips hatte, also kaum körpergewichttauglich war. Die Anreimschicht war jedoch gut siebzig, achtzig Zentimeter dick, und so schuftete ich mich weiter nach oben. Die Wand war jedoch unmerklich steiler geworden, und je steiler sie anstieg, desto dünner wurde der Anreim. Ich war in einen langsamen, tranceartigen Rhythmus verfallen - hacken, hacken; treten, treten; hacken, hacken; treten, treten. Plötzlich schlug mein linker Eispickel auf das Dioritgestein des Felsens, nur wenige Zentimeter unter dem Rauhfrost.
Ich versuchte es weiter links, dann rechts, aber wohin ich meinen Eispickel auch schlug, überall traf ich auf harten Fels. Der Anreim, auf dem ich mich hielt, war anscheinend nur noch zehn Zentimeter dick und hatte in etwa die Festigkeit einer vertrockneten Scheibe Maisbrot. Unter mir tat sich ein Abgrund von über einhundert Metern Tiefe auf, und ich turnte auf einem Kartenhaus herum.
Meine Angst wurde immer größer, und ich spürte einen sauren Geschmack im Mund. Ich sah alles nur noch verschwommen, mein Atem wurde kürzer, und ich verspürte ein unkontrollierbares Zittern in den Schenkeln. Ich schob mich einen halben Meter nach rechts, hoffte, daß das Eis dort dicker war, verbog mir aber nur einen meiner Eispickel an hartem Felsgestein.
Mit ungelenken Bewegungen fing ich an, mich nach unten zu hangeln, wie gelähmt vor Angst. Der Anreim wurde wieder dicker. Nach etwa fünfzehn Metern Abstieg erreichte ich wieder einigermaßen festes Terrain. Ich blieb dort lange Zeit stehen, versuchte, mich zu beruhigen. Nach einer Weile lehnte ich mich an meinen Eispickeln zurück und blickte nach oben. Irgendwo mußte es doch so was wie festes, solides Eis geben. Ich suchte die Wand nach irgendeiner Variation im Felsgestein ab, nach irgend etwas, das mich nach oben führen würde. Ich suchte, bis mir der Nacken schmerzte, konnte aber nichts entdecken. Die Besteigung war vorbei. Es blieb nur der Rückzug.
Das Stikine - Gletscherplateau II
KAPITEL FÜNFZEHN
Bevor wir jedoch das Wagnis nicht eingegangen sind, können wir nicht wissen, wieviel von jener Unbändigkeit in uns steckt. Sie ist es, die uns über Gletscher und durch reißende Ströme zwingt, die uns die gefährlichsten Gipfel erklimmen läßt, und mag es uns auch noch so unvernünftig erscheinen.
JOHN MUIR,
»THE MOUNTAINS OF CALIFORNIA«
Hast du eigentlich bemerkt, wie Sam II die Mundwinkel verzieht, wenn er dich ansieht? Es bedeutet erstens, daß er nicht damit einverstanden ist, daß du ihn Sam II genannt hast, und zweitens bedeutet es,
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