In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)
Frühsommer in der Nase und dabei fühlen, wie die Sonnenstrahlen und die Schattenflecken der Blätter über mein Gesicht tanzten. Und wie mein Herz kräftig und voller Freude schlug.
56
»Ich sage Ihnen doch – es geht mir gut!«
Dr. Katz musterte mich mit ausdrucksloser Miene. Ich konnte ihrem Blick nicht standhalten; meine Augen rutschten abwärts, über ihre ungewohnt schlichte himmelblaue Bluse und die übereinandergeschlagenen Beine in hellen Jeans hinunter, an den schwarzen Lackpumps vorbei, bis ich schließlich das Tupfenmuster des Teppichs vor mir fixierte. Eine ungeheure Wut stieg in mir auf und brachte mich zum Zittern, und ich ballte die Fäuste.
»Mir geht’s endlich wieder gut!«, schrie ich. »Ich hab Ferien und ich hab Freunde, mit denen ich jeden Tag etwas Tolles unternehme! Ich hab Spaß und mir geht’s gut! Einfach nur gut!«
»Warum glaubst du, mich unbedingt davon überzeugen zu müssen, dass es dir gut geht?«
»Weil’s stimmt!«, brüllte ich. »Weil’s mir einfach wieder gut geht!« Am liebsten hätte ich irgendwas hier in diesem Zimmer gegen die Wand geworfen oder auf dem Boden zerschmettert, vielleicht als Erstes diese blöde Uhr unter Glas, deren Ticken an meinen Nerven zerrte. Oder irgendwas von diesem grässlichen Deko-Kram im Bücherregal. Seit die Ferien begonnen hatten und ich Dienstag und Donnerstag Vormittag um zehn zu Dr. Katz in die California Street ging, war hier bei ihr alles irgendwie schief und verquer für mich.
»Musst du dich womöglich selbst davon überzeugen, dass es dir wieder gut geht?«
»Aber es stimmt doch!« Meine Stimme überschlug sich fast und kippte schon ins Heisere. »Mir geht’s gut! Einfach nur gut!«
Dr. Katz seufzte; an dem schabenden Geräusch von Jeans auf Jeans hörte ich, dass sie die Beine umgekehrt übereinanderschlug. »Du kannst vielleicht mich davon überzeugen, Amber. Du kannst bestimmt auch dich davon überzeugen, dass es dir endlich wieder gut geht. Aber deine Seele wirst du nicht so einfach austricksen.«
»Aber ich spür’s doch.« Urplötzlich war meine Wut irgendwo tief in mir versackt, und ich flüsterte nur noch. »Ich spür doch, wie gut es mir geht.«
»Es ist gut, dass du Freunde hier gefunden hast, Amber. Und es ist auch gut, dass ihr gemeinsam etwas unternehmt – dass es Dinge gibt, die dir Freude machen. Das will ich dir auch nicht wegnehmen.« Meine Wangen begannen zu glühen, weil sie mal wieder meine Gedanken gelesen hatte. »Aber deshalb ist die Trauer um deine Mutter nicht plötzlich weg. Auch die Wut nicht, die du auf sie hast. Oder die Wut auf deinen Vater. Genauso wenig wie die Wut, die du auf mich hast, weil ich immer wieder genau damit ankomme. Diese Gefühle vergräbst du so tief in dir, dass du davon überzeugt bist, es gibt sie gar nicht. Sie sind aber da, Amber, sie sind real. Und solange du deine Wut, deinen Schmerz nicht rauslässt, geht es dir nicht gut. Weil diese Gefühle permanent in dir herumspuken und dir Angst machen.«
Ich zuckte zusammen und sah Dr. Katz erschrocken an.
»Da hast du deine Geister, Amber. Deine Trauer. Dein Schmerz. Deine Wut. Erst wenn du dir eingestehst, dass es sie gibt, erst wenn du dich auf sie einlässt, kannst du aufhören, davor Angst zu haben. Und dann kannst du wirklich sagen, dir geht es gut. Richtig gut.«
»Meinen … meinen Sie so was wie Erlösung?«, hauchte ich.
Dr. Katz lächelte. »So kann man es nennen, ja. – Triffst du dich nachher noch mit deinen Freunden?«
Ich nickte. »Wir gehen zum Baker Beach, schwimmen und faulenzen, vielleicht noch den Sonnenuntergang angucken.«
»Schön.« Ihr Lächeln vertiefte sich. »Dann wünsch ich dir viel Spaß, Amber. Unsere Zeit ist für heute um. Wir sehen uns am Dienstag wieder.«
Mit angezogenen Knien saß ich im Sand und beobachtete staunend, wie das Rot und Orange und Gold, das die untergegangene Sonne hinterlassen hatte, langsam in ein Pink und ein Lila überwechselten, das den Himmel und das Meer verzauberte. An der Golden Gate Bridge flammten die ersten Lichtpünktchen auf wie heruntergefallene Sterne vor der dunklen Hügelkette dahinter, und auch hier am Strand wurden die ersten Windlichter entzündet. Der Wind, der kühl über meine sonnendurchwärmte Haut strich, trug Stimmen und Gelächter und manchmal ein paar Fetzen Musik aus einem Ghettoblaster heran und nahm sie dann wieder mit sich fort.
Ich wandte den Kopf und sah zu Nathaniel hinüber. Er stand in einiger Entfernung in den Ausläufern der
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