In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)
es für zu wichtig, um es noch länger rauszuschieben.« Er räusperte sich noch einmal. »Ich habe mir überlegt, ob es nicht sinnvoll wäre, wenn wir professionelle Hilfe für dich in Anspruch nehmen. Ich würde gern für dich einen Termin bei einer Therapeutin vereinbaren.« Ich erstarrte in meiner gebückten Haltung. »Nicht nur wegen deiner Albträume.« Meine Wangen wurden heiß, und ich senkte den Kopf, sodass mir die Haare vors Gesicht fielen; irgendwie hatte ich gehofft, Ted hätte am folgenden Morgen immer schon vergessen, dass ich ihn nachts regelmäßig mit meinem Geschrei aufschreckte. Zumindest hatte er bis jetzt die vergangenen Nächte mit keiner Silbe erwähnt. »Sondern überhaupt wegen deiner ganzen … Situation momentan.«
»Kein Bedarf«, grummelte ich, zerrte den Reißverschluss meines Rucksacks zu und trank einen großen Schluck von meinem Milchkaffee, ohne Ted dabei anzusehen.
»Ich denke schon«, entgegnete er ruhig. »Du hast eine Menge durchgemacht in den letzten Monaten. Karens Krankheit und … und jetzt der Ortswechsel. Das geht nicht spurlos an einem vorüber. Vor allem nicht in deinem Alter.«
»Mit mir ist alles in Ordnung!«, fauchte ich. Ich hatte doch keine Schraube locker! Das Einzige, was mir fehlte, war Mam – und Gabi und Julia und meine anderen Freunde und meine kleine Heimatstadt am See. Und daran würde auch eine Psycho-Tante nichts ändern können.
»Sieh mal, Amber …« Ted stellte seinen Becher hinter sich auf die Arbeitsplatte. »Das ist hier nicht so wie bei euch in Deutschland. Hier muss einem das nicht peinlich sein, wenn man zu einem Shrink geht. Ich kenne Leute, die wegen weitaus kleinerer Probleme …«
Ich knallte meinen halb leeren Becher auf den Tisch, sodass der hellbraune Kaffee darin am Rand hochschwappte. »Ich hab doch gerade gesagt – kein Bedarf!«
Ted seufzte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Mir geht es auch darum, dass du eine Vertrauensperson hast. Eine weibliche. Mit der du über irgendwelche … Frauendinge reden kannst, über die du mit mir nicht …«
Mein Kopf ruckte hoch. »Die hab ich! Gabi! Aber du musstest mich ja unbedingt von ihr fortholen!« Ich erschrak selbst darüber, wie zittrig meine Stimme klang.
Sein ohnehin schmaler Mund wurde noch schmaler, und er massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel unter dem Steg seiner Brille, bevor er mich wieder ansah. »Schau, Amber, ich will doch nur …«
Ich schnappte mir meinen Rucksack und sprang auf. »Können wir jetzt endlich los?« In langen Schritten stürmte ich an Ted vorbei, auf den Flur hinaus, und schleuderte ihm über die Schulter hinweg zu: »Ich nämlich will nicht gleich am ersten Tag zu spät kommen!«
5
Nachdem Ted unter viel Lenkradgekurbel seinen Wagen, ein älteres Modell in einem bräunlichen Silberton, aus der engen Parklücke am oberen Ende der Straße befreit hatte und zweimal abgebogen war, fädelte er sich zwischen anderen Autos, Bussen und den bunten Taxis in den dichten Verkehr auf einer ewig langen, schnurgeraden Straße ein. Im Licht der Straßenlaternen und der Scheinwerfer tanzten unzählige feine Wassertröpfchen eines stetigen Nieselregens. Zwischen den Häuserzeilen, deren poppige Fassaden in Dunkelheit und künstlichem Licht unwirklich und ein bisschen trostlos wirkten, zählte ich unterwegs zwei Synagogen mit Davidstern und mindestens vier Kirchen, die allesamt seltsame Namen wie »Temple Emanu-El« oder »Swedenbergian Church« trugen. Auf der rechten Seite tauchte ein gigantisch großer Park auf, der Presidio, den Ted mir schon gezeigt hatte, als wir vor zwei Tagen zusammen mit dem Bus zu meiner neuen Schule und wieder zurück gefahren waren. Damit ich den Weg alleine fand, wie Ted mir erklärte, wenn er mich einmal morgens nicht fahren konnte oder er nachmittags länger an der Uni arbeiten musste. Was ja nun wirklich nicht schwierig war: Die Linie 1 fuhr praktisch von Tür zu Tür. So witzig ich es fand, dass die Ansagen im Bus nicht nur auf Englisch, sondern auch auf Spanisch und Chinesisch gemacht wurden, so enttäuscht war ich, dass es keiner dieser gelben Schulbusse war, die ich aus dem Fernsehen kannte, denn ausgerechnet die Jefferson High im Stadtteil von Richmond wurde davon nicht angefahren. Was mir irgendwie zu denken gab.
Von der Stadt hatte ich bisher noch nicht viel gesehen. Ted hatte mich zwar mehrfach gefragt, ob ich mit ihm morgens joggen gehen wollte, und Ausflüge in den Presidio oder den Golden Gate
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