In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)
toten Augen über mich hinweg.
Noch 699 Tage. Wenigstens war die Sieben vorne schon mal weg.
Im Foyer mit dem bunten Wandgemälde summte es wie in einem Bienenstock; überall hingen Girlanden aus bunter Metallfolie, aus denen Happy New Year ausgestanzt war, und hoch oben über der großen Treppe breitete sich ein Banner aus, auf dem in roten Buchstaben Welcome to Spring Term! stand. Ich blieb einen Augenblick stehen und musterte die anderen Schüler, die auf den grau und rot bezogenen Sitzecken herumlungerten, schwatzend und lachend in Grüppchen zusammenstanden oder zielstrebig vorwärtsmarschierten. Immer wieder blieb jemand vor dem schwarzen Brett stehen, studierte die Aushänge und hastete dann weiter. Mit Erleichterung stellte ich fest, dass bis auf ein paar Mädchen in knapp knielangen Röcken mit Strumpfhosen und Stiefeln alle in ähnlichen Klamotten herumliefen wie ich in meinen Jeans, den Chucks und der Khaki-Jacke; ich ging damit völlig in der Menge unter. Abgesehen davon natürlich, dass die meisten Schüler, die ich sah, asiatische Gesichtszüge hatten; viele waren schwarz und mindestens genauso viele sahen lateinamerikanisch aus, und neben den wenigen weißen Gesichtern entdeckte ich ein paar, die indisch oder südostasiatisch wirkten. Die totale Multi-Kulti-Schule.
Ich schaute auf die Uhr, die zwischen an Nylonfäden schwebenden Kunstobjekten an der Decke hing. Fünf vor halb acht. Zögerlich machte ich einen Schritt vorwärts, da schoss von rechts ein Rollstuhl heran und fuhr mich beinahe über den Haufen; ich konnte im letzten Moment gerade noch zurückspringen.
»Sorry!«, brüllte mir der blonde Junge über die Schulter seiner schwarzen Bomberjacke hinweg zu und riss eine Hand in einem fingerlosen Lederhandschuh entschuldigend in die Höhe, während er mit der anderen den Rollstuhl weiter vorwärtstrieb, bis er mit quietschenden Reifen vor dem Aufzug auf der anderen Seite eine Vollbremsung machte. Ich verbiss mir ein wütendes Schimpfwort und setzte mich wieder in Bewegung.
Mit dem Schrillen der Schulglocke schaffte ich es Punkt halb acht vor die Tür zu Zimmer 105. Michelle Lim – School Counselor stand auf dem Plastikschild unter der Zimmernummer. Ich wartete, bis all die Stimmen, schnellen Schritte und zuklappenden Türen verklungen waren, dann klopfte ich an, ein flaues Gefühl im Bauch.
»Herein!«, zwitscherte es vergnügt hinter der Tür, die ich vorsichtig aufschob.
Von dem Bildschirm auf dem Schreibtisch blickte eine mandeläugige junge Frau in Jeans und rotem Strickpulli auf, die mit ihren schwarzen, zum Pferdeschwanz zusammengezurrten Haaren aussah, als ginge sie hier selbst noch zur Schule; daran änderte auch die schwere Hornbrille auf ihrer Stupsnase nichts. Sofort knipste sie ein 1000-Watt-Lächeln an.
»Hiiiii! Guten Moor-gen«, rief sie in extrem gut gelauntem Singsang, sprang auf und kam mit wippendem Pferdeschwanz auf mich zu. »Du musst Amber sein! Ich bin Michelle! Ganz, ganz herzlich willkommen an der Jefferson High«, rief sie und schüttelte mir kräftig die Hand. »Du wirst bei uns eine großartige Zeit verbringen!« Na sicher doch. »Nimm bitte Platz!«
Ich setzte mich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und sah mich verstohlen um, während Michelle zurück auf ihren Platz hüpfte, eine Akte vom Stapel nahm, aufschlug und gleichzeitig wild am Computer herumklickte. Die Regale an den Wänden waren mit Büchern vollgestopft; an den freien Flecken dazwischen hingen gerahmte Urkunden, Diagramme und Tabellen neben Kohlezeichnungen und Aquarellen.
»Sooo, da haben wir dich!«, verkündete Michelle freudig und löste ihren Blick vom Bildschirm. »Du weißt bestimmt, dass unsere Schule eine ganz besondere ist?«, fügte sie fragend und mit einem fast geheimnisvollen Unterton hinzu. Obwohl ich nickte, begann sie, das Mission Statement herunterzuspulen, das ich schon aus der Broschüre kannte, die Ted uns damals geschickt hatte. Für mich hatte es wie die offizielle Verlautbarung eines internationalen Großkonzerns geklungen, der mit blumigen Formulierungen und schillernden Zukunftsvisionen darüber hinwegtäuschen will, dass er seine Arbeiter ausbeutet und die Umwelt verschmutzt. Google hatte mir ausgespuckt, dass die Jefferson High ein Sonderprogramm für Autisten anbot und sowohl auf hochbegabte als auch auf lernschwache Schüler spezialisiert war, außerdem auf Jugendliche, die neu in Amerika waren und erst Englisch lernen mussten, sowie auf schwer gehandicapte und
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