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In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)

In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)

Titel: In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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emotional belastete Schüler. Dreimal durfte ich raten, weshalb Ted ausgerechnet die Jefferson High als erste Wahl für mich vorgeschlagen und Mam sich dafür entschieden hatte.
    »… jedenfalls legen wir allergrößten Wert auf die individuelle Förderung deiner Fähigkeiten und Talente«, schloss Michelle ihren Vortrag und lächelte dabei so strahlend, als hätte sie gerade den Oscar für die beste weibliche Hauptrolle gewonnen. »Und natürlich auch auf deine persönliche Entwicklung und Entfaltung – in einem Umfeld, das dir Sicherheit, kreative Anregungen und das nötige Maß an Herausforderung bieten soll!«
    Weil ich nicht wusste, was ich darauf sagen sollte, nickte ich wieder.
    Gründlich ging Michelle dann mit mir die Gutachten und Empfehlungen der Lehrer meiner alten Schule und die Zeugniskopien durch, die Mam per Mail oder telefonisch angefordert und nach San Francisco weitergeschickt hatte, stellte mir Fragen nach meinen Hobbys und Interessen und was wir in welchem Fach zuletzt behandelt hatten, während sie nebenbei eifrig mit der Maus hantierte und auf die Tastatur einhackte.
    »Sooo, das hätten wir«, frohlockte sie, klickte noch einmal abschließend mit der Maus, und der Drucker sprang an. Während er jammernd Blatt um Blatt bedruckte und ausspie, lehnte sie sich zurück und sah mich mit einem begeisterten Ausdruck an. »Dein Englisch ist wirklich ausgezeichnet, mein Kompliment!«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Ich bin zweisprachig aufgewachsen. Meine Mutter …« Dass Mam und ich zu Hause sowohl Deutsch als auch Englisch miteinander redeten, war für mich immer ganz normal gewesen, und auch Julia hatte es nie anders gekannt. Erst Sandra hatte sich darüber gewundert, und als ich Mam danach fragte, hatte sie mir erklärt, sie habe immer gewollt, dass ich nicht nur eine Muttersprache, sondern auch eine Vatersprache hätte. Ich für meinen Teil hätte lieber einen Vater gehabt, der auch tatsächlich da war.
    Augenblicklich knipste Michelle ihr Lächeln aus und verzog stattdessen kummervoll das Gesicht. »Mein Beileid zu deinem großen Verlust, Amber! Das muss furchtbar schwer für dich sein!«
    Ich klemmte die Unterlippe zwischen die Zähne und starrte auf den Rucksack zwischen meinen Füßen. Mein Verlust. Die Mutter verloren. Merkwürdige Ausdrücke dafür, was mir passiert war, dachte ich. Man konnte doch einen Menschen nicht verlieren wie einen Schlüssel oder einen Geldbeutel! Und noch viel weniger konnte man ihn suchen gehen und vielleicht wiederfinden. Mam kam nicht wieder, auch wenn ich manchmal nachts davon träumte. Dass sie mich in den Arm nahm und mir zuflüsterte, das sei alles ein großer Irrtum der Ärzte gewesen, aber jetzt sei sie wieder da, sie sei wieder gesund und würde nie wieder weggehen.
    »Wir hier an der Jefferson High werden alles tun, was in unserer Macht steht, um dir in dieser schweren Zeit beizustehen«, hörte ich Michelle sanft sagen. »Um dir ein Stück Normalität zurückzugeben. Und um dir vielleicht ein neues Zuhause zu bieten.«
    Obwohl sie klang wie die Schulprospekte, wirkten ihre Worte ehrlich gemeint; irgendetwas in meinem Gesicht geriet ins Zittern und in meinem Bauch fühlte es sich komisch an. Erst als Michelle auf ihre überschäumend gute Laune zurückschaltete, den Stoß Papier aus dem Drucker holte und unter genauen Erklärungen Blatt um Blatt vor mir ausbreitete, konnte ich wieder leichter atmen.

6
    »Wenn du noch Fragen hast oder Probleme auftreten«, sagte Michelle mit tanzendem Pferdeschwanz, während wir durch einen der langen Korridore gingen, »oder wenn du mit deinem Stundenplan nicht zurechtkommst – du kannst mich jederzeit anrufen oder mir eine E-Mail schicken. Dafür bin ich da. Oder du kommst einfach vorbei! Meine Sprechstunden stehen auf der Rückseite.« Sie zeigte auf ihre Visitenkarte in einem Klarsichtfach vorne auf der Plastikmappe, die ich vor mir hertrug. Mit dem Adler-Logo der Jefferson High bedruckt, enthielt diese Mappe die gesamten Unterlagen, die ich von Michelle bekommen hatte. Meinen Stundenplan. Wichtige Termine und Feiertage im heute beginnenden Frühlingstrimester. Namenslisten meiner Lehrer mit Mailadresse und Telefonnummer. Listen der für mich geeigneten Neigungsgruppen mit genaueren Beschreibungen, Terminangaben, Raumnummern und Anmeldeformularen und Flyer verschiedener Clubs der Schule. Zugangsdaten für das schuleigene Netzwerk und die Website. Einen Schülerausweis, einen Ausweis für die Bibliothek sowie die

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