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In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)

In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)

Titel: In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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»Die einzige Erfahrung, die ich da hab, ist meine eigene Jugendzeit. Und die war nicht besonders toll.«
    Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. Irgendwann einmal hatte ich Mam gefragt, ob ich in Amerika auch Großeltern hätte und vielleicht Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen. Mam hatte mir über den Kopf gestrichen und gemeint, das sollte ich Ted besser selber fragen. Aber irgendwie kam es nie dazu; das Einzige, was ich wusste, war, dass Ted eine Schwester in New Jersey hatte. Aber er klang nicht so, als ob er darüber reden wollte. Also drängte ich nicht weiter.
    Stattdessen rubbelte ich mit der Sohle meiner Socke über den Holzboden und fragte leise: »Gehst du am Wochenende auch wieder joggen?«

9
    Ich dribbelte die Rädchen des Zahlenschlosses auf Mams Geburtsdatum, öffnete die Tür meines Schließfachs und fing an, meinen Kram zusammenzupacken, um zum Beacon hinunterzugehen und dort meine Hausaufgaben zu machen. Noch 676 Tage.
    Fast einen Monat war ich jetzt hier in San Francisco und allmählich wurde das Leben hier Alltag. Alles lief nach Plan: Lange Schultage bis Viertel nach drei montags, dienstags, freitags; kürzere Schultage bis halb drei mit Blockunterricht wie Chemie, Sport oder Bio mittwochs und donnerstags. Nur die krummen Uhrzeiten wie 9:17 oder 11:41 fand ich noch gewöhnungsbedürftig, und genauso, dass die Stunden an den langen Schultagen zu ganz anderen Uhrzeiten begannen als an den kürzeren. Danach machte ich im Beacon meine Hausaufgaben, bis Ted mich gegen sieben abholte und noch für uns kochte. Samstags und sonntags gingen wir morgens unsere Joggingrunde drehen. Meistens fuhren wir zum Golden Gate Park, in dem wir uns ständig neue Routen durch das mit Bäumen und Sträuchern dicht bewachsene Gelände suchten. Mal zwischen anderen Joggern, Spaziergängern und fotografierenden Touristen am japanischen Teegarten mit seinem Pavillon in Rot und Gold vorbei und an dem See mit den darauf umherpaddelnden Enten, an dem es eine Bootsvermietung und rotzfreche graue Eichhörnchen gab, mal bei der holländischen Windmühle am anderen Ende des Parks oder an dem riesigen altmodischen Gewächshaus unter Palmen, dessen Glasscheiben unter der Sonne silbern glänzten. Ab und zu fuhren wir auch zum Rand des Presidio; unter dem Geschrei der Möwen die Uferpromenade entlangzulaufen, mit Blick auf die Bucht von San Francisco, die Golden Gate Bridge und an klaren Tagen über die braunvioletten Hügel der Küste von Sausalito und auf Angel Island – das hatte schon was. Frisch geduscht gingen wir nach dem Frühstück im Supermarkt einkaufen oder brachten unsere Wäsche zu Dewey (Lewey?) ins Leroy’s, und nachdem ich auch den letzten Karton aus Deutschland ausgeräumt und meine Sachen in den Regalen und im Kleiderschrank verstaut hatte, lernte ich für die Schule oder las, während Ted arbeitete.
    Lautes Gejohle kam vom Ende des Korridors her und ich spähte an der rot lackierten Metalltür des Schließfachs vorbei. In halsbrecherischem Tempo jagten nebeneinander zwei Rollstuhlfahrer heran; unter erschrockenem Quieken sprangen ein paar Schüler beiseite, die genau in ihrem Weg standen.
    »Hi!«, rief mir der blonde Rollstuhlfahrer in der schwarzen Jacke im Vorbeijagen atemlos zu, während sein Konkurrent mit verbissen zusammengekniffenem Gesicht stumm an mir vorbeisauste.
    »Hi, Ben«, rief ich hinterher, bevor die beiden scharf abbremsten, um das Wettrennen hinter dem Knick am anderen Ende des Flurs fortzusetzen. Ben war mit mir im Kurs für Literatur und war genauso begeistert von F. Scott Fitzgerald wie ich und fand Doctorow genauso bescheuert, was er Mr Woolff auch in sehr deutlichen Worten erklärt hatte. Sandra fand es voll krass! , was ich ihr in meinen Mails über die Jefferson High schrieb. Von Arnold, der das Tourette-Syndrom hatte und in Mathe immer mal wieder heiser aufschrie und Flüche vor sich hinzischte, oder von Tanya, die nach einem Unfall auf dem Motorrad ihres Bruders eine Beinprothese trug und trotzdem bei mir im Sportkurs war. Oder von Cheryl, die erst mal ihren Platz in Kunstgeschichte mit Desinfektionsspray behandelte und mit einem Stapel Papiertaschentücher abrieb, bevor sie sich setzte. Voll die Freak-Show bei euch! , hatte Sandra mir geschrieben, aber mir kam das inzwischen ganz normal vor. Und schließlich hatte ich genauso mit etwas zu kämpfen, auch wenn man das vielleicht nicht auf den ersten Blick sah. Die Leute hier gingen besser damit um und für mich machte es die Sache

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