In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)
jemand, den man liebt, eines Tages einfach nicht mehr da ist.
»Ich … äh … also …«, stotterte ich herum. »Wo …?« Hilflos hob ich mein Tablett an.
Er lächelte, nahm sein mit Huhn, Salat, Obst und Trinkbecher bepacktes Tablett in die eine Hand und entzog mir mit der anderen meines. »Komm, ich zeig’s dir.«
Mit heißen Wangen folgte ich ihm, die Reihe aus mannshohen Birkenfeigen in glasierten Tontöpfen entlang, hinter denen sich dann zu meiner Schande das Laufband für die benutzten Tabletts verbarg. Und hätte ich den Blick vorher mal ein Stück nach oben wandern lassen, hätte ich da auch das Schild gesehen, das gut sichtbar darauf hinwies. Megapeinlich.
»Schon allein daran«, er hob mein Tablett kurz an, bevor er es auf das Band stellte, »hab ich gesehen, dass du neu sein musst. Hier Mac’n’Cheese zu nehmen ist ein Fehler, den man nur einmal macht.«
Unwillkürlich zuckte es um meinen Mund, obwohl meine Wangen immer noch brannten. »Danke.«
Freundlich nickte er mir zu. »Gern geschehen.«
Ich sah ihm nach, wie er mit seinem Tablett zu einem der Tische in der Nähe ging, sich zu einer Gruppe anderer Jungs setzte und unter lockerem Geplauder zu essen anfing. Eine Leere machte sich in mir breit, die fast etwas von Enttäuschung hatte. Als ob er irgendwie hätte bemerken müssen, dass wir etwas gemeinsam hatten. Ein Gedanke, über den ich innerlich selbst den Kopf schüttelte, und doch ließ er mir keine Ruhe, während ich mich durch die anderen Schüler schlängelte.
Am Ausgang hätte ich beinahe einen Jungen mit stoppelkurzen mattbraunen Haaren angerempelt, der so plötzlich vor mir auftauchte, als hätte er sich eben erst aus dem Nichts materialisiert. Dabei musste er schon länger hier gestanden haben; die Hände tief in die Taschen seiner verwaschenen Jeans geschoben, beobachtete er das Getümmel vor sich, einen sehnsüchtigen, fast melancholischen Zug auf seinem blassen Gesicht, das schmal und spitz war wie das einer Maus.
»Sorry«, sagte ich mit einem verlegenen Auflachen. »Ich hab dich überhaupt nicht gesehen!«
Er richtete den Blick auf mich und zog die fein gezeichneten Brauen zusammen. Seine Augen waren veilchenblau, beinahe Ton in Ton mit den tiefen Schatten, die darunter lagen. Der Ausdruck darin veränderte sich, bekam etwas Fassungsloses. Als hätte er mich auch eben erst wahrgenommen.
»Sorry«, wiederholte ich. Meine eigene Stimme klang mir heiser in den Ohren und ich ging schnell weiter. Kräftig rubbelte ich abwechselnd links und rechts über meine Blusenärmel; ich hatte Gänsehaut.
8
Die Lampe auf meinem Nachttisch schnitt einen unscharfen Lichtkreis aus der Dunkelheit. Daneben glühten die Ziffern des Radioweckers. 10:07 PM . Kurz nach zehn Uhr abends. In Deutschland war es jetzt kurz nach sieben Uhr morgens. Julia und Sandra waren auf dem Weg zur Schule, Gabi machte sich fertig für die Arbeit. Dieser blöde Zeitunterschied machte es verdammt schwer, in Kontakt zu bleiben. Bevor ich morgens zur Schule ging, waren die anderen noch dort; wenn ich aus der Schule zurückkam, schliefen sie in Deutschland längst, und bis sie wieder aufstanden, musste ich schon fast ins Bett. Abgesehen davon, dass morgens vor der Schule für sie auch nicht der ideale Zeitpunkt war, um in Ruhe zu reden. Ich war froh, wenn wir es schafften, am Wochenende irgendwann mal zwischendurch zu skypen oder zu telefonieren, zwischen den Einkaufstouren, Kinobesuchen, Partys, Ausflügen und Familienbesuchen der anderen, oder wenn ich auf Facebook zeitverzögert sah, was bei ihnen so los war.
Ich starrte das Mobilteil des Telefons an, das neben meinem angewinkelten Knie auf dem Bett lag. Als Ted mich heute Nachmittag von der Schule abgeholt hatte, war der Karton auf dem Beifahrersitz gelegen, und er hatte sich dafür entschuldigt, nicht gleich daran gedacht zu haben, mir eines zu besorgen. Jetzt hatte ich sogar einen eigenen Anschluss mit einer eigenen Nummer, aber niemanden, den ich außerhalb eines winzigen Zeitfensters damit anrufen konnte.
Ich griff zu meinem Handy und öffnete das Adressbuch, suchte die einzige Nummer heraus, die mir sonst noch einfiel, und tippte sie nach der 0049 für Deutschland in das Mobilteil ein. Es knisterte und klackte mehrmals im Hörer, dann kam der Freiton, leiser und irgendwie anders, als ich ihn von zu Hause kannte.
»Seemann?« Sie klang wirklich Tausende von Kilometern weit entfernt.
Ich sah sie vor mir, mit ihrem gepflegten Kurzhaarschnitt, den sie alle
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