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In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)

In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)

Titel: In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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heute nach, dass sie sich nach der Scheidung unserer Eltern viel um mich kümmern musste.« Er stand auf und schob einen Ordner nach dem anderen ins Regal. »Ich nehme an, dass sie deshalb nie Kinder wollte.«
    Ich sah ihm zu, wie er nach und nach die Unterlagen einsammelte und wieder an ihrem Platz verstaute; dann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen. »Erzählst du mir mehr? Von dir – von früher?« Meine Stimme war kaum zu hören.
    Ted drehte sich um und sah mich überrascht an. »Natürlich. Gerne sogar. Wenn du magst, können wir auch Fotos anschauen.« Er deutete auf den Turm aus Schuhkartons neben dem Ledersessel in der Ecke, die als Einzige noch nicht ihren Platz gefunden hatten; sonst waren alle Kisten und Kartons ausgeräumt und ihr Inhalt in die Regale und Vitrinen gewandert. Aus dem halb fertigen Apartment war eine richtige Wohnung geworden. Als ich nickte, schien ein Lächeln auf Teds Gesicht auf.
    »Ich bin hier gleich fertig. Bestell doch so lange schon mal Pizza für uns zwei.«

25
    Mit angezogenen Knien lag ich auf dem Rücken und starrte an die Decke hoch. Von den Girlanden, den Blätterranken und Rosenblüten waren inzwischen mehr und feinere Details zu erkennen. Denn dass die Sonne höher stand, kräftiger schien und die Tage länger machte, ließ auch dieses Haus nicht unberührt. Seine Räume wirkten größer, so lichtdurchflutet wie sie jetzt waren. Gleichzeitig traten die Spuren von Alter und Abnutzung deutlicher hervor, die Schrammen und Scharten im Holz, die Flecken von Feuchtigkeit, die Dreckschlieren, die Spinnweben und Wollmäuse. Die Verzierungen aus Stuck über mir waren teilweise beschädigt und feine Sprünge liefen hindurch. Vielleicht stammten sie von einem Erdbeben, wie mich gestern Abend eines aufgeschreckt hatte, als ich an meinem Schreibtisch über den Hausaufgaben saß und mein Zimmer zu vibrieren begann. Ich hatte völlig verdrängt, dass es in San Francisco dauernd bebte, aber meistens so gering, dass man es nicht einmal merkte. Die Aussicht allerdings, dass früher oder später The Big One zu erwarten war, ein mindestens ebenso starkes und verheerendes Beben wie 1906, fand ich beunruhigend. Andererseits war die Wahrscheinlichkeit wohl deutlich höher, vorher unter einen Cable Car zu geraten oder von einem Autofahrer umgenietet zu werden, der mit einem Affenzahn um die Ecke schoss, während man die Straße überquerte.
    Hier allerdings, in diesem Haus, hatte ich das Gefühl, mir konnte nichts geschehen. So alt wie es aussah, schien es noch aus den Jahren vor dem Großen Beben zu stammen, und es wirkte so massiv und robust, als würde es jeder Naturgewalt trotzen. Als ob die Zeit daran zwar nagen, es aber nie in die Knie zwingen könnte.
    Etwas Ewiges, Unvergängliches hing in diesen Räumen.
    »Weißt du, was das Schlimmste für mich war?«, flüsterte ich nach einer Weile, und ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr ich fort: »Dass ich mir nichts sehnlicher wünschte, als die Zeit anhalten zu können. Damit uns nicht jeder Tag dem einen näher brachte, an dem sie nicht mehr da sein würde. Und gleichzeitig …« Ich atmete tief durch. »Und gleichzeitig hab ich mir genauso sehr gewünscht, dass es bald vorbei sein würde. Weil alles so schrecklich war.« Ich blinzelte heftig und biss mir auf die Lippen.
    »Wie in einem Albtraum, der einfach nicht aufhört.« Wenn er leise sprach, so wie jetzt, klang seine Stimme noch tiefer, noch aufgerauter, aber auch viel sanfter. »Man kommt nicht vorwärts, aber auch nicht zurück. Man ist einfach darin gefangen.«
    Überrascht wandte ich den Kopf. Seine kräftige Kinnlinie auf die Faust gestützt, hatte sich Nathaniel neben mir ausgestreckt. So nahe war er mir, dass ich die feinen braunen Sprenkel in seinen tiefgrünen Augen erkennen konnte und eine kleine halbmondförmige Narbe zwischen Schläfe und Jochbein. Ich hätte nur die Hand auszustrecken brauchen, um mit den Fingerspitzen über seine helle Haut zu fahren, die sich dort, wo der Kragen seines Hemdes aufstand, über die starken Knochen und Muskeln spannte, oder um in seine dunklen Locken zu fassen; nur schon der Gedanke daran machte mir wohlige Gänsehaut. Und es war tatsächlich er, der nach Moos roch, nach durchnässtem und wieder getrocknetem Holz und ein bisschen rauchig.
    Eine angenehme Wärme breitete sich in meinem Bauch aus. »Du kennst das Gefühl?«
    Er nickte mit einem schwermütigen Lächeln.
    Lange sah ich ihn einfach nur an. So wie er mich.
    Ob es ihm auffiel, dass

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