In dunkler Tiefe sollst du ruhn: Mitchell & Markbys zwölfter Fall
Stück für Stück verändert. Sie hatte hübsche Vorhänge gekauft und neu tapeziert. Sie hatte außerdem den kleinen französischen Tisch mitgebracht, der zwischen den schweren, gemütlichen Sesseln und den Schränken aussah wie ein gestrandeter Aristokrat. Genauso wie Sonia selbst, wenn sie in diesem Zimmer gewesen war, das arme Ding. Jetzt saß Simons Nichte auf dem Sofa, zusammengekuschelt, und blätterte in einem Buch. Es sah aus wie ein Schulbuch. Wie viele Male hätte man ihn damals, dreißig Jahre zurück, in genau der gleichen Haltung auf dem gleichen Sofa sitzen sehen können? Nicht so Hugh. Hugh war immer draußen gewesen, irgendwo auf dem Gelände der Farm. Ein echter Sohn der Erde, dachte Simon ironisch. Neben Tammy auf dem Sofa schnarchte ein ältlicher Spaniel friedlich vor sich hin. Als Simon erschien, öffnete er die rot geränderten Augen. Er erkannte den Besucher und schloss sie prompt wieder, um weiterzuschlafen. Tammy musste einen tiefen Schock erlitten haben, dachte Simon, und niemand hatte Zeit für sie. Hugh ganz bestimmt nicht, in seinem gegenwärtigen Zustand. Andererseits hatte er in keinem Zustand jemals Zeit für seine Tochter gehabt, soweit Simon imstande gewesen war, dies zu erkennen. Das hatte nicht an Meinungsverschiedenheiten oder Abneigung gelegen und war nicht grausam gemeint gewesen. Der Grund waren einfach die langen Stunden auf der Farm, die harte Arbeit, eine kranke erste Frau und viele, viele Sorgen.
»Alles in Ordnung, Tam?«, fragte Simon, ging zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Er spürte, wie sie unter seiner Berührung erstarrte, und nach einer Sekunde des Zögerns nahm er die Hand wieder weg. Eine eigenartige kleine Person war seine Nichte. Doch Simon fühlte sich unruhig und hakte mit gerunzelter Stirn nach.
»Tammy?« Sie sah auf, begegnete flüchtig seinem Blick und wandte sich dann wieder ihrem Buch zu.
»Mir fehlt nichts.«
»Was hast du denn da? Geschichte?« Er war ehrlich interessiert, denn er war selbst Historiker.
»Ich habe meine Hausaufgaben vergessen, und Miss Brady war sauer. Ich muss heute nicht zur Schule, weil Sonia tot ist, deswegen kann ich sie jetzt machen.« Er war trotz allem ehrlich schockiert über die Kühle in ihrer Stimme und die unverblümte Art und Weise, wie sie über den Tod ihrer Stiefmutter redete.
»Nun ja, zwing dich nicht dazu, sie zu machen, wenn dir nicht danach ist. Niemand wird es dir übel nehmen, weder Miss Brady noch sonst irgendwer.« Er redete freundlich zu ihr, weil er das Kind mochte und stets geglaubt hatte, dass Tammy ihn ebenfalls mochte. Er hatte ihr von klein auf immer Geschichten erzählt, die er während seiner historischen Forschungen gesammelt hatte, Geschichten von Rittern in Rüstungen und von Abenteuern in fremden Ländern, von großen Armeen, die vernichtet worden waren und sich mit dem Staub der Wüste vermischt hatten. Sie hatte seine Geschichten in sich aufgesogen. Er hatte sich darüber gefreut und gehofft, dass sie vielleicht eines Tages ebenfalls Historikerin werden würde. Er hatte es Hugh erzählt.
»Wenn das Kind studieren möchte, wenn es älter ist, beteilige ich mich an den Kosten, kein Problem. Schließlich habe ich keine eigenen Kinder.« Jetzt waren ihre Augen auf die Seite fixiert. Sie wollte nicht mit ihm reden. Sie verarbeitete das Geschehen auf ihre eigene Weise in ihrer eigenen Welt. Simon ließ sie in Ruhe und ging zum Barschrank, um seinem Bruder den versprochenen Kurzen einzuschenken. Er goss sich ebenfalls einen ein, weil er ihn nötig hatte, selbst wenn Hugh ihn nicht zu brauchen vorgab. Nur, dass Hugh ihn nötig hatte und jede andere Stütze, die er im Augenblick finden konnte. Jeder konnte es sehen, sogar ein Blinder. Er würde völlig zusammenbrechen, wenn die Polizei kam, verdammt noch mal! Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie an die Tür klopften. Simon warf einen Blick auf seine Armbanduhr und überlegte, wie viel Zeit ihm bleiben mochte, um seinen Bruder so weit fit zu machen, dass er imstande war, ein paar vernünftige Antworten zu geben auf die Fragen, die ohne jeden Zweifel kommen würden. Simon trug die beiden Whiskygläser zurück in die Küche und fügte einen Spritzer Wasser hinzu.
»Hier.« Er hielt seinem Bruder ein Glas hin.
»Ich hab ihn nicht zu sehr verdünnt.« Hugh nahm den Whisky, zögerte einen Moment und kippte ihn dann mit unanständiger Hast hinunter. Es war ein guter Malt. Simon nippte an seinem Glas.
»Hör mal, Hugh«, sagte er
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