In dunkler Tiefe sollst du ruhn: Mitchell & Markbys zwölfter Fall
zusammenbrechen würde? Hatte er Sonia tatsächlich so sehr geliebt? Er fuhr in dem vorsichtigen, bedachtsamen Tonfall fort, den Leute annehmen, wenn sie bemüht sind, jemand anderen zu beruhigen.
»Es ist doch nur natürlich, dass du im Augenblick so fühlst. Genau so, wie es natürlich ist, sogar gut ist, wenn man trauert.« Er stockte und bedauerte die Unangemessenheit seiner Klischees. Er klang wie eine verdammte Briefkastentante aus einer billigen Illustrierten. Doch er war überrascht worden, hatte nicht mit dem gerechnet, was ihn erwartete, war nicht darauf vorbereitet gewesen, damit umzugehen. Er hatte erwartet, dass Hugh trauerte, doch er hätte niemals geglaubt, dass er emotional so durchdrehen könnte. Er hatte ihn noch nie so gesehen, nicht einmal damals, als Penny gestorben war. Er hatte überhaupt nicht damit gerechnet, hatte sich im Leben nicht vorstellen können, dass Hugh einmal so aus der Bahn geworfen werden könnte. Selbst als Kind war er ein phlegmatischer, in sich gekehrter Junge gewesen, sehr ähnlich seiner Tochter Tammy heute. Und doch, hier saß der unerschütterliche Hugh an diesem sonnigen Freitagmorgen und schien nicht mehr ein noch aus zu wissen. Es machte eine schwierige Situation noch schwieriger. Simon stellte fest, dass er einen innerlichen Widerwillen verspürte. Als er weitersprach, war sein Tonfall ein wenig steifer.
»Es kann unmöglich deine Schuld sein, Hugh«, wiederholte er.
»Du musst mir glauben. Ich würde dich nicht belügen, oder? Ich?« Er streckte erneut die Hand nach dem anderen aus und drückte herzlich seine Schulter.
»Wann habe ich dir jemals etwas anderes als die nackte, ungeschönte Wahrheit gesagt?« Hugh Franklin blickte auf, das Gesicht vor Qualen verzerrt. Er nickte und brachte ein Flüstern zu Stande.
»Ja, ich weiß, dass du mir die Wahrheit sagst, so wie du sie siehst, Simon. Es ist nur, du irrst dich diesmal. Es ist meine Schuld. Ganz allein meine Schuld.« Einem Fremden, der die Szene beobachtet hätte, wäre sofort aufgefallen, dass die beiden Männer Brüder waren. Ein bleicher Strahl Morgensonne fiel durch das Fenster über dem Waschbecken und auf die beiden. Er betonte die gleichen roten Stellen in ihrem Haar, die gleichen grauen Augen, die gleichen blassen Wimpern und Augenbrauen, die gleichen feinen, kleinen Gesichtszüge. Sie unterschieden sich lediglich in ihrer Statur und der Farbe ihrer Haut. Bei Hugh erkannte man sogleich, selbst im Sitzen, dass er ein Mann war, dessen Leben viel physische Betätigung beinhaltete, der größte Teil davon unter freiem Himmel. Seine Haut war vom Wetter gegerbt, seine Unterarme waren muskulös, seine Hände rau. Er hatte sich an jenem Morgen nicht rasiert, und sein Kinn war von einem goldenen Stoppelbart bedeckt. Simon hingegen besaß den blassen Teint von jemandem, der sich die meiste Zeit über innerhalb geschlossener Räume aufhält, und die leicht hängenden Schultern verrieten den Schreibtischarbeiter. Die Brille, die er gegenwärtig in die Stirn geschoben hatte, verstärkte diesen Eindruck noch. Nun griff er mit einem Seufzer nach oben und setzte sich die Brille auf die Nase. Sie besaß einen etwas altmodischen dicken schwarzen Rahmen und war auf einer Seite an der Stelle, wo der Bügel hinter dem Ohr verschwand, provisorisch mit Gewebeband repariert worden.
»Es ist noch ein wenig früh am Tag«, sagte er,»aber du brauchst etwas zu trinken, alter Mann.«
»Nein. Wenn ich jetzt anfange, mir die harten Sachen hinter die Binde zu kippen, bin ich ganz erledigt.« Hugh blickte auf und brachte ein schwaches Lächeln zu Stande.
»Bestimmt nicht. Nur einen Kurzen. Bleib sitzen, ich gehe etwas holen.« Simon verließ die Küche und ging in das Wohnzimmer der Familie. Auf der Türschwelle blieb er stehen, kaute auf der Unterlippe und nahm den vertrauten Anblick in sich auf. In gewisser Hinsicht hatte sich wenig verändert, seit er und Hugh Knaben gewesen waren. Dies war der älteste Teil des Hauses, und die massiven Deckenbalken verrieten es. Das Haus war im Lauf der Jahrhunderte zahllose Male erweitert, umgebaut, teilweise abgerissen und wieder aufgebaut worden, doch dieser Raum, das wusste Simon aus seinen eigenen Nachforschungen, datierte bis auf die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts zurück. Es war ein unordentliches, behagliches Zimmer mit altem Mobiliar, von dem vieles aus der Zeit ihrer Eltern stammte und einiges sogar noch aus der ihrer Großeltern. Sonia hatte dieses Zimmer verabscheut und es
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