In einem Boot (German Edition)
ohne Nahrung überleben konnte. Uns war die Gelegenheit gegeben worden, das Verhungern einen oder zwei weitere Tage hinauszuschieben. Auf ein größeres Geschenk, so schien es mir, durften wir nicht hoffen. Wenn ich heute daran zurückdenke, wird mir klar, dass wir schon lange nicht mehr daran glaubten, von irgendjemandem gerettet zu werden. Wir wussten, dass wir keine andere Möglichkeit hatten, als uns selbst zu retten. Ich war nicht die Einzige, die eine merkwürdige Verbundenheit mit allem empfand, was uns umgab: mit dem Himmel, dem Meer und dem Boot voller Menschen, denen das Blut aus dem Mund bis übers Kinn lief und deren trockene und rissige Lippen aufplatzten und nässten, wenn sie ausnahmsweise einmal lächelten.
Nacht
Es war vermutlich ein Fehler, so viel zu essen, denn einige von uns litten unter starken Verdauungsstörungen. Während der ganzen Nacht hörte man, wie der eine oder andere von seiner Notdurft gequält wurde. Ich hatte keinerlei Beschwerden, und als das Licht schwächer wurde, verstärkte sich das merkwürdige Gefühl von Entspanntheit und Mitgefühl für meine Kameraden, das ich schon während des Nachmittags empfunden hatte. Ich weiß nicht, wie ich dieses Gefühl, das sich in mir ausbreitete, anders nennen könnte als Optimismus, und als Mary Ann mir ihre kleinen Hände auf die Schultern legte und mich in eine Umarmung zog, erwiderte ich die Geste.
Seit Mr Hardie uns an jenem ersten Tag nebeneinandergesetzt hatte, hatte Mary Ann es sich zur Gewohnheit gemacht, bei mir Rat und Zuspruch zu suchen. Ich glaube, dies hatte damit zu tun, dass Hardie so kalt und unnahbar war – man brauchte fast so etwas wie einen Botschafter, um eine Audienz bei ihm zu bekommen. Und sowohl Hannah als auch Mrs Grant waren sehr gefragte Leute, während von mir sonst niemand etwas wollte. Als an diesem Abend die brennende Sonne zum Horizont niedersank, wurde das ganze Boot in einem rotgoldenen Glühen gebadet. Unsere blutverkrusteten Gesichter sahen aus wie die Fratzen von Höllendämonen. Hannah hatte ein Tuch ins Meer getaucht und sich darangemacht, den Menschen das Blut abzuwischen. Mary Ann schien sich plötzlich darüber klarzuwerden, wie sie aussah, nicht zuletzt, weil alle im Boot mit Federn und schleimigem Blut bedeckt waren. »Grace«, flüsterte sie und verbarg ihr Gesicht in den Händen. »Haben Sie ein Tuch bei sich?«
»Wozu brauchen Sie ein Tuch?«, wollte ich wissen.
»Ich will mir das Gesicht waschen! Es sieht schrecklich aus, nicht wahr?«
Ich erklärte ihr, ich hätte kein Tuch, aber dass Hannah ihr gleich das Gesicht abwischen würde, wenn sie an die Reihe käme.
»Ich will es aber selbst tun!«, rief sie. »Können Sie mir helfen, ans Wasser zu kommen? Ich könnte mich hinausbeugen und mich im Meer waschen.« Sie deutete auf den leeren Platz neben Mr Preston, und ich hielt sie fest, während sie vorsichtig dorthin ging. Aber sie wollte mich nicht loslassen. »Nein, Sie müssen auch kommen«, beharrte sie. »Es macht Ihnen doch nichts aus, mit Grace den Platz zu tauschen, nicht wahr, Mr Preston?«
Mittlerweile hatte mich Mary Ann so weit zu sich gezogen, dass ich fast auf dem Mann lag, und so hatte Mr Preston keine andere Wahl, als mir Platz zu machen. Als wir uns gesetzt hatten, sagte Mary Ann: »Jetzt werden wir uns gegenseitig waschen. Ich werde Ihr Spiegel sein und Sie meiner.« In der Zwischenzeit war die Sonne hinter dem Horizont versunken, und die Dämmerung war schon weit fortgeschritten. »Gleich ist es dunkel«, sagte ich. »Dann sehen wir nichts mehr. Im Dunkeln nutzt uns ein Spiegel nichts.«
»Deshalb müssen wir uns beeilen«, sagte Mary Ann.
Ich dachte, sie wäre in Sorge, dass die Nacht vollends eingesetzt haben würde, wenn Hannah schließlich zu ihr käme, und sie deshalb ihr Gesicht nicht richtig würde reinigen können. Es ging mir auch durch den Sinn, dass Mary Ann vielleicht von Bauchkrämpfen geplagt wurde und nur eine Ausrede dafür gesucht hatte, am Bootsrand zu sitzen, falls sie ihre Nahrung wieder von sich geben musste. Erst als Hannah etwa eine halbe Stunde später zu uns kam und uns fragte, ob sie uns helfen könne, uns die Gesichter zu waschen, erkannte ich den wahren Grund für Marys Drängen. Ich schaute zu Hannah auf und hörte sie sagen: »Nun, es sieht so aus, als wäre bei euch alles in Ordnung.« Und da wusste ich, dass es die Eifersucht war, die Mary Ann dazu getrieben hatte, darauf zu bestehen, dass wir uns gegenseitig wuschen. Mary Ann hatte
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