In einem Boot (German Edition)
Hand fuhr zu dem Messer an seinem Gürtel, und er zog es heraus, aber statt es Hannah zu übergeben oder damit die Schnur zu durchschneiden, richtete er es drohend nach vorn und sagte: »Also schön, wenn Ihnen mein Wort nicht genügt … Her mit dem Kästchen!«
Ehe Mrs Grant noch etwas erwidern konnte, stieg das Boot auf dem Rücken einer riesigen Welle nach oben, rutschte an dem Wellenhang wieder nach unten, und da, über uns, im Absturz auf uns begriffen, war das andere Rettungsboot. »An die Ruder!«, brüllte Hardie, als die beiden Boote nur noch Zentimeter, so schien es mir, voneinander entfernt waren. Hardie und Hannah fielen gegeneinander, und das Messer, ob unabsichtlich oder nicht, schnitt tief in Hannahs Wange. Sie schrie auf, das Kästchen rutschte ihr aus der Hand, und sie fiel gegen Hardie. Es gelang ihm, sie festzuhalten, und – wiederum war nicht erkennbar, ob es Absicht war oder nicht – er ließ das Messer los, das über Bord fiel, vermutlich mit dem Kästchen, denn beides tauchte danach nicht mehr auf. Nur der Gnade Gottes ist es zu verdanken, dass Hannah und Hardie nicht ebenfalls über Bord gingen. Hardie schwor – und ich halte seine Beteuerungen für durchaus glaubhaft –, dass er nicht beides retten konnte, Hannah und das Kästchen, aber er besaß in unseren Augen eine Allmacht, sodass wir der festen Überzeugung waren, er habe alles so arrangiert, damit das Geheimnis oder der belastende Beweis, den das Kästchen enthielt, für immer verloren war.
Hardie stieß Hannah zu Boden, riss Mr Hoffman das Ruder aus der Hand und begann, trotz seines verletzten Arms unser Boot mit aller Macht von dem anderen wegzuschieben. »Sind Sie immer noch der Meinung, wir sollten uns denen anschließen?«, schrie Hardie. »Wir gäben bestimmt ein hübsches Bild ab, wenn wir unsere Boote zusammenbinden und Seite an Seite über die Wellen schaukeln würden, was?«
Ich habe nur eine bruchstückhafte Erinnerung an die Menschen in dem anderen Boot. Die meisten lagen zusammengesunken und bewegungslos da. Ob sie verletzt, krank oder tot waren, konnte man nicht erkennen. Nur vier oder fünf Leute zeigten überhaupt Lebenszeichen. Ihre Münder standen vor Entsetzen weit offen, als wir uns auf Kollisionskurs befanden. Eine Frau streckte die Arme nach uns aus, und ein Mann rief etwas, was wir aber nicht verstehen konnten. Eins allerdings war deutlich zu erkennen: In dem anderen Boot war jede Menge Platz.
Als Hardie Mr Hoffman das Ruder aus der Hand genommen hatte, setzte sich Mr Preston neben mich, um die Gewichtsverlagerung im Boot auszugleichen. Jetzt beugte er sich zu mir und sagte leise: »Was immer in diesem Kästchen war, muss von großem Wert sein.«
»Alle Menschen hängen an ihren persönlichen Besitztümern«, sagte ich. »Und ich denke, in einer Umgebung wie dieser, wo die meisten von uns alles verloren haben, wiegt ein Erinnerungsstück doppelt schwer.«
»Aber man macht doch für gewöhnlich nicht ein solches Geheimnis daraus. Warum sagt uns Mr Hardie nicht einfach, was sich darin befand? Wenn sich die Dinge etwas beruhigt haben, sollte ihn vielleicht jemand danach fragen, statt zu versuchen, ihm seine Geheimnisse mit Gewalt zu entreißen.«
»Jetzt jedenfalls ist kaum der richtige Zeitpunkt!«, sagte ich und fügte dann hinzu: »Außerdem hat es der Mann bestimmt schon mit den unterschiedlichsten Leuten zu tun gehabt. Kein Wunder, dass er nicht weiß, wem er trauen kann.«
»Wie wahr«, sagte Mr Preston, und wieder hatte ich das Gefühl, dass er etwas zurückhielt, dass er mehr über das Kästchen wusste, als er offenlegte.
Nachdem wir einen gewissen Abstand zwischen uns und das andere Boot gebracht hatten, wies Mr Hardie uns an, die Ruder zu verstauen. »Entweder sie oder ich«, sagte er dann und deutete mit seinem gesunden Arm auf Mrs Grant. »Entscheidet euch, wer hier das Sagen haben soll. Entweder ihr wollt sie oder ihr wollt mich.« Er erklärte, dass das Kästchen ihm gehört habe und dass es niemanden etwas angehe, was sich darin befand. Danach schwieg er beharrlich. Ich erinnerte mich an das Kästchen, das er während des Sturms in seiner Jacke versteckt hatte, und zweifelte nicht daran, dass es sich um dasselbe handelte. Wenn das stimmte, dann hatte er sich große Mühe gegeben, es niemandem zu zeigen. Aber diese Überlegung behielt ich für mich.
Mrs Grant schaute sich um und forderte uns alle auf, unsere Meinung zu sagen. Sie ging mit gutem Beispiel voran und erklärte, dass sie davon
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