In einem Boot (German Edition)
nicht so gut vorbereitet schien wie seine Kollegen. »Dieses Ereignis machte eine Entscheidung unumgänglich. Zum einen bestand während des Sturms keine Chance auf eine Rettung, denn selbst wenn ein Schiff in der Nähe gewesen wäre, hätte niemand das Boot in diesem Unwetter bemerkt. Und zum anderen wurde durch den Sturm der Untergang des überfüllten Bootes wahrscheinlich, wenn nicht sogar unvermeidlich. Der Sturm versetzte die Menschen in dem Boot in die gleiche Situation wie die Männer, die auf Leben und Tod um diese eine Planke kämpfen.«
»Das mag sein, wie es will, aber wir reden hier nicht über die Entscheidungen, die Mr Hardie getroffen hat, oder über seine Handlungen«, sagte der Staatsanwalt. Dass die Äußerungen von Mrs Grants Anwalt mit der Anklage gegen uns nichts zu tun hatten, war selbst mir klar. Bis dahin hatte ich Hannah wegen der Wahl ihres Verteidigers – des Mannes mit dem Scharnierhals – bedauert, aber jetzt tat mir Mrs Grant leid, denn ihr Anwalt hatte doch tatsächlich vergessen, dass der Sturm längst vorbei gewesen war, als wir Mr Hardie umbrachten, und so wunderte es mich nicht, als der Staatsanwalt fortfuhr: »Mr Hardie hatte immer noch das Heft in der Hand, als der Sturm tobte. Ob die Lotterie, die er vorschlug, gerechtfertigt war, ist fraglich, aber es ist keine Frage, die dieses hohe Gericht zu beantworten hat.«
»Ganz recht«, ließ sich Hannahs Verteidiger vernehmen. Mit seinen überlangen Fingern kramte er in einem Papierstapel und zog von ganz unten ein Blatt heraus. Er hob es hoch, betrachtete es im Licht, und ein berechnender Ausdruck machte sich auf seinem blassen, länglichen Gesicht breit. »Aber wenn Mr Hardies Handlungen stillschweigend geduldet werden, dann besteht Anlass, auch die Handlungen der Frauen zu dulden, die lediglich das Verfahren fortsetzten, das jemand anderes ins Leben gerufen hatte. Man darf nicht vergessen, dass der Sturm das Boot ernsthaft beschädigt hatte und durch dieses Leck in rascher Geschwindigkeit Wasser eindrang.«
»Ich glaube nicht, dass wir bestimmen können, mit welcher Geschwindigkeit das Wasser ins Boot einlief«, entgegnete der Staatsanwalt.
»Mein Punkt ist folgender: Wenn es durch den Sturm zu einer Notsituation kam, die mit der Situation der hypothetischen Planke vergleichbar ist, und wenn im Falle der Planke extreme Handlungen vertretbar sind, dann müssten auch derartige Handlungen nach dem Sturm geduldet werden, da der Schaden, der am Boot entstanden war, und das neue Verhältnis zwischen Mr Hardie und dem Rest der Gruppe zu einer Notsituation führten. Indem er skrupellos bereit war, Insassen des Bootes zu opfern, war Mr Hardie zu einer unmittelbaren Gefahr geworden.«
Mittlerweile hatte ich meine Ansicht über Hannahs Anwalt gründlich revidiert, denn er hatte die löchrige Logik von Mrs Grants Verteidiger aufgegriffen und sie zu unser aller Vorteil eingesetzt. Ich bewunderte seine Fähigkeit, mehrere Schritte vorauszudenken, während ich der Argumentation immer hinterherhinkte und darauf hoffen musste, mich unterwegs im Wirrwarr der Gesetze und der Logik nicht zu verirren. Trotzdem wirkte der Mann träge und sah aus, als wäre er aus Teig gemacht, und ich war froh, dass ich von Mr Reichmann vertreten wurde, der mit wachem Blick Überzeugung und Zuversicht ausstrahlte und überdies über einen ganzen Schwarm Assistenten verfügte. Wenn der bleiche Mann allerdings in Fahrt kam, wurde seine Rede trotz seiner schwächlichen und kränklichen Erscheinung regelrecht leidenschaftlich. Sein ausgewaschenes Gesicht begann zu glühen und die kohlschwarzen Pupillen und das flammend rot geäderte Weiß seiner Augen sprachen von einem inneren Feuer. Er schloss mit den Worten: »Ich möchte meinen, dass die Tötung von Mr Hardie dem Sturz eines böswilligen Anführers entsprach – eines Despoten, wenn Sie wollen –, der über ein eigenes kleines Reich herrschte, ein tyrannischer Autokrat, der das Leben der ihm Anvertrauten in tödliche Gefahr brachte.«
Der Staatsanwalt konterte: »Aber hat Mr Hardie nicht ein deutliches Widerstreben zum Ausdruck gebracht, ja geradezu einen Unwillen, das Leben der Frauen zu opfern? Wenn dies der Fall ist, wieso sollte dann die Lotterie für die Frauen zu einer Bedrohung geworden sein?« Woraufhin mein Mr Reichmann erwiderte: »Was ist mit Mrs Cook? Haben Mr Hardies Kommentare und Einflüsterungen nicht dazu geführt, dass sie sich selbst das Leben nahm? Und hat er nicht deutlich gezögert,
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