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In einem Boot (German Edition)

In einem Boot (German Edition)

Titel: In einem Boot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Rogan
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Jedenfalls zog er seine Taschenuhr heraus, warf einen Blick darauf und erklärte, dass er noch einen Termin mit einem anderen Klienten habe. »Wir müssen unsere Zeit das nächste Mal besser ausnutzen«, sagte er. Er klang wie Dr. Cole, ein Umstand, der wiederum mich verärgerte, denn ich mochte Dr. Cole nicht, während ich nicht umhinkonnte, Mr Reichmann aus tiefstem Herzen zu bewundern.
    »Schlafen Sie eine Nacht darüber«, sagte er zu mir. »Ich halte es für durchaus möglich, dass Sie nicht die Absicht hatten, Mr Hardie ein Leid zuzufügen, und dass Sie erst im letzten Moment beschlossen, Hannah zu helfen. Wenn dies der Fall ist, wäre es gut, wenn Sie mich das vor der Anhörung morgen wissen lassen könnten. Ihre Mitangeklagten plädieren auf Notwehr, was bedeutet, dass sie die Tötung zugeben, aber behaupten, dass sie sich zu diesem Schritt gezwungen sahen, weil sie Mr Hardie als Bedrohung für ihr eigenes Leben und für das Leben der anderen betrachteten. Sie müssen sich entscheiden, ob Sie auf Notwehr plädieren oder sich als gänzlich unschuldig präsentieren. Wir werden morgen darüber reden, bevor wir zum Gericht gehen.«
    Ich verbrachte eine schlaflose Nacht, in der ich in Gedanken wieder und wieder den Vorfall abspulte und nach irgendetwas suchte, das ich vergessen hatte, etwas, das die Ereignisse dieses Tages in einem anderen Licht erscheinen lassen konnte. Es gab keinen Zweifel, dass Hannah und Mrs Grant die Absicht gehabt hatten, Mr Hardie umzubringen. Die Rechtfertigung, er sei eine Gefahr für uns alle gewesen, war wohl ihre einzig mögliche Entschuldigung. Aber war es auch die Wahrheit? Wir befanden uns zwar in ernster Gefahr, aber waren Mr Hardies Handlungen ein Teil dieser Gefahr geworden? Ich glaube, dass die Situation im Boot von dem Moment an extrem gefährlich wurde, als sich die beiden Frauen gegen ihn stellten, aber war dies tatsächlich Mr Hardies Schuld oder die Schuld der Frauen, die auf einem anderen Standpunkt beharrten? Und wenn die Frauen Schuld hatten, was genau war ihnen vorzuwerfen? Hätten sie still im Boot sitzen und tun sollen, was man ihnen befahl, ohne sich zu Wort zu melden, wie wir ihrer Meinung nach am ehesten gerettet werden konnten? Aber letztendlich war eine Entscheidung über diese Fragen nicht meine Sache. Ich musste mich nur entscheiden, was Mr Reichmann dem Gericht in meinem Fall vortragen sollte.
    Am nächsten Morgen bei Gericht war ich diejenige, die das Fortschreiten der Zeit mit unruhigen Augen beobachtete. Die Anhörung sollte um zehn Uhr beginnen, aber um Viertel vor zehn war Mr Reichmann immer noch nicht da. Hannah und Mrs Grant hatten sich mit ihren Anwälten ins Konferenzzimmer zurückgezogen, während ich allein auf einer Bank in einem langen Flur saß, bewacht von der Gefängnisaufseherin, hin- und hergerissen zwischen der Gewissheit, dass Mr Reichmann mich nicht im Stich lassen würde, und wiederkehrenden Zweifeln und Ängsten. »Wo ist mein Anwalt?«, fragte ich die Wärterin ein ums andere Mal. Und ein ums andere Mal antwortete sie mir in ihrem weichen irischen Akzent: »Er wird schon kommen. Ich kenne Mr Reichmann. Sie können sich auf ihn verlassen.« Als er schließlich auftauchte, musste ich meinen aufgestauten Ärger herunterschlucken. Stattdessen fragte ich: »Ist alles in Ordnung? Ich habe mir Sorgen gemacht, dass Ihnen etwas zugestoßen sein könnte.«
    Er strahlte von einem Ohr zum anderen. Vergessen war die unwillige Miene vom Vortag. »Keine Sorge, die Anhörung wurde auf heute Mittag verschoben«, verkündete er und stellte seine Aktentasche neben sich auf dem Boden ab. Ich fand, dass mich jemand von diesem Umstand hätte in Kenntnis setzen können, aber ich war so erleichtert, dass ich schon bald die Angst vergaß, die ich seiner Nachlässigkeit zu verdanken gehabt hatte. Die Aufseherin ließ uns allein, und er setzte sich neben mich auf die Bank. »Haben Sie über das nachgedacht, was ich Sie gestern gefragt habe?«, wollte er wissen. Sein Ton verriet mir, dass es auf diese Frage wieder eine richtige Antwort gab, und ich war einen Augenblick lang unsicher, was er von mir erwartete. Ich sagte ihm schließlich die Wahrheit und hoffte inständig, dass es das war, was er hören wollte. Ich schaute ihm in die Augen, die mich nicht länger belustigt anschauten, sondern sich in tiefe, dunkle Teiche voller Sorge verwandelt hatten. Dann sagte ich: »Als ich auf Mr Hardie und Hannah zuging, wusste ich nicht, was ich tun würde. Ich glaube, ich

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