In einem Boot (German Edition)
anvertrauten, mit Klauen und Zähnen beschützte, aber keine Hemmungen hatte, alle anderen umzubringen. Und wir hatten das Band, das uns seiner Loyalität und seines Schutzes versicherte, schon lange vor seiner Tötung durchschnitten. Stattdessen stellte ich die Vermutung an, dass Hardie womöglich etwas ganz anderes erzählen würde; vermutlich würde er sogar lügen, wenn es darum ging, was mit denjenigen geschehen war, die nicht überlebt hatten. »Ich würde nicht allzu gründlich nach ihm suchen«, sagte ich mit einem unwillkürlichen Schaudern. »Immerhin haben wir ihn aus dem Boot geworfen.«
»Da haben Sie wohl recht«, sagte Mr Glover und betrachtete mich mit unverhohlener Sorge. Ich zitterte am ganzen Leib. Mr Glover wusste offensichtlich nicht, wie er mich beruhigen sollte, und so sagte ich: »Obwohl ich Mr Hardie nie wieder zu Gesicht bekommen möchte, wünschte ich, er wäre noch am Leben.« Es war wohl das, was Mr Glover von mir hören wollte. Er wollte es von mir hören, weil er selbst sich wünschte, dass Mr Hardie am Leben wäre, denn das würde bedeuten, dass ich niemanden getötet hätte. Und ich hatte das Gefühl, Mr Glover konnte sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass ich Blut an den Händen hatte. Heute Morgen hatte ich mir überlegt, ihn zu bitten, bei Felicity Close vorzusprechen und ihr einen Brief von mir zu bringen, mich dann aber dagegen entschieden. Ich wollte ihr versichern, dass ich Henry wirklich geliebt hatte, dass ich zwar anfangs ein Interesse an seinem Vermögen gehabt hatte, ihn aber wirklich und wahrhaftig von Herzen geliebt hatte. Ich wollte sie um Henrys willen davon überzeugen, nicht um meinetwillen. Aber ich hatte schon immer ein gutes Gefühl dafür gehabt, wann es ratsam war, etwas offenzulegen, und wann ich besser schwieg. Und daher erwähnte ich Mr Glover gegenüber nichts von Felicity und zerriss später den Brief, den ich ihr geschrieben hatte, und warf ihn weg. Stattdessen wiederholte ich: »Ich hoffe wirklich, dass Mr Hardie am Leben ist.« Und indem ich so viel Leidenschaft in meine Stimme legte, wie ich vermochte, schenkte ich Mr Glover die Gelegenheit, mir tröstend seine Hand auf den Arm zu legen.
Am nächsten Tag kam Mr Reichmann ins Gefängnis und stellte mir zwei Fragen. Zum einen wollte er wissen, ob ich mitgeholfen hatte, Mr Hardie aus dem Boot zu stoßen, und wenn ja, wann ich mich dazu entschlossen hatte, es zu tun. »Ich glaube, ich habe mitgeholfen, ihn über Bord zu stoßen«, antwortete ich zögernd. Ich fragte ihn, ob er meinen Bericht gelesen habe, den ich ihm vor über einer Woche gegeben hatte, und er meinte, das habe er getan. Trotzdem bat er mich, noch einmal die Ereignisse zu rekapitulieren, die zu Mr Hardies Tod geführt hatten, denn ihm war nicht ganz klar geworden, ob ich, als ich nach hinten ins Boot ging, Hannah oder Mr Hardie hatte helfen wollen. »Vielleicht hatten Sie eigentlich vor, dem Mann beizustehen, den Sie bewunderten und dem Sie nach Ihrer eigenen Auffassung Ihr Leben verdankten. Vielleicht hat Mr Hardie Ihr Näherkommen missverstanden und Sie angegriffen, und erst dann änderten Sie Ihre Absicht und halfen Hannah, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen.«
»Sie haben recht mit Ihrer Annahme, dass mir, als ich aufstand, nicht klar war, was ich erreichen wollte.«
»Also handelten Sie fast automatisch, als ob Sie einen Befehl befolgten?«
»Ich glaube nicht, dass ich es automatisch tat. Ich weiß noch, dass ich zu diesem Zeitpunkt äußerst angestrengt darüber nachdachte, was das Richtige war.«
»Sie wollten also das Richtige tun.«
»Ja! Ich wollte demjenigen helfen, der …« Ich verstummte, weil mir klar wurde, dass es sehr berechnend wirken musste, wenn ich jetzt eingestand, dass ich mich auf die Seite desjenigen schlagen wollte, der im Boot das Sagen hatte. Gleichzeitig bemerkte ich, dass mich Mr Reichmann mit einem Ausdruck betrachtete, der eine Mischung aus Belustigung und Faszination war, und es dämmerte mir, dass er mir die Antwort auf seine Frage bereits vorgesagt hatte und sich nun wunderte, warum es so lange dauerte, bis ich begriff. Als ich so abrupt verstummte, bewölkte sich sein Gesicht, und er wirkte verärgert. Allerdings wusste ich nicht, ob er ungehalten darüber war, dass ich seiner Verteidigungsstrategie nur so unbeholfen zu folgen vermochte oder dass ich mich gebremst hatte, ehe die Wahrheit über meine Lippen gekommen war. Oder vielleicht ärgerte es ihn auch bloß, dass es schon so spät war.
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