In einem Boot (German Edition)
Rebecca Frost aus dem Meer zu ziehen? Es ist doch nicht zu übersehen, dass angesichts dieser Handlungsweise sich auch die Frauen in unmittelbarer Gefahr wähnen mussten, und zwar aufgrund seiner Anwesenheit in dem Boot.«
Der Ankläger war ein flinker Mann, dessen Worte förmlich aus seinem Mund sprudelten, als ob er glaubte, die Räder der Justiz würden sich rasend schnell drehen und er müsse sich beeilen, um mitzukommen. »Uns liegen widersprüchliche Aussagen über die Umstände von Mrs Cooks Tod vor, und die Behauptung, Mr Hardie hätte gezögert, Rebecca Frost zu retten, ist schlichtweg waghalsig. Jedes Ereignis lässt Raum für Interpretationen und für die Hervorhebung eines bestimmten Aspekts, der dann dieses Ereignis zu definieren scheint.«
Nachdem die Argumente etwa eine Stunde lang hin und her gegangen waren, erklärte Richter Potter: »In dieser Diskussion bewegen wir uns immer wieder von der allgemeinen Frage weg hin zu Details, und ich komme zu dem Schluss, dass es keine allgemeingültige Antwort auf die Frage gibt, ob es generell vertretbar ist, Menschenleben zu opfern, um andere zu retten. Wir müssen daher versuchen zu entscheiden, ob es in diesem besonderen Fall vertretbar war, denn diese Situation in ihrem Ausmaß und in ihrer ganzen Abnormität wird sich wohl so schnell nicht wiederholen. Jeder Fall muss daher unter Berücksichtigung seiner einzigartigen Tatsachen und Umstände entschieden werden und nicht durch die Anwendung einer universellen Gesetzmäßigkeit.« Mit diesen Worten eröffnete der Richter das Verfahren gegen uns. Er stellte uns unter die Herrschaft des Gesetzes, und wieder einmal befanden wir uns in der Hand einer höheren Gewalt.
Unschuld
Möglicherweise war die Diskussion über die nicht vorhandene Planke oder die Erwähnung des anderen Rettungsbootes schuld daran, jedenfalls kam das Gerücht auf, Mr Hardie sei noch am Leben. Es stand sogar in der Zeitung, und Mr Glover brachte mir den Artikel bei seinem Besuch im Gefängnis mit, wobei er gegen die Regel verstieß, dass einem Gefangenen nur das zur Kenntnis gegeben werden durfte, was vorher geprüft und genehmigt worden war.
»Wenn das wahr wäre«, sagte er, »könnte man Sie nicht wegen Mordes anklagen.«
»Warum nicht?«, fragte ich. Die Vorstellung, dass sich Mr Hardie an die Oberfläche gekämpft und auf wundersame Weise die Küste erreicht haben könnte, entsetzte und erschütterte mich.
»Weil Sie niemanden getötet hätten!«, antwortete er, augenscheinlich überrascht. Ich dachte kurz darüber nach und erkannte, dass er natürlich recht hatte, denn wir wurden ja nur des Mordes an Mr Hardie angeklagt, nicht wegen der anderen Todesfälle im Boot, obwohl ich mich manchmal so fühlte, als ob man mir die Schuld an allem gab, einschließlich des Untergangs der Zarin Alexandra . Als ich begriff, was er meinte, stieg in mir eine unvernünftige Hoffnung auf, bis ich wieder vor meinem geistigen Auge sah, wie Hardie mehrfach nach oben gekommen war, ehe er endgültig in den Wellen versank. Ich sah immer noch das schwarze Wasser von seinem Gesicht tropfen, das so eingefallen wie ein Totenschädel war. Ich fühlte den Wind an meiner Seele saugen, und ich wusste genau, dass ich eine Wiederauferstehung von Mr Hardie nicht verkraften würde.
»Es ist im Rahmen des Möglichen«, sagte Mr Glover. »Schmuck, der mit der Zarin Alexandra in Verbindung gebracht wird, ist in New York aufgetaucht. Noch ist nichts gesichert, aber Mr Reichmann hat mich beauftragt, der Sache nachzugehen.«
»Wenn er am Leben ist«, sagte ich, »wird er wohl kaum gut auf uns zu sprechen sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er vor Gericht erscheinen und sagen wird: ›Es ist alles in Ordnung, ich bin nicht tot. Sie können diese Frauen gehen lassen.‹«
»Nein, das würde er vermutlich nicht tun«, sagte Mr Glover. »Aber das müsste er auch gar nicht. Allein die Tatsache, dass er am Leben ist, würde schon ausreichen.«
»Dann würde man uns vermutlich wegen versuchten Mordes anklagen«, sagte ich. »Wie lautet die Höchststrafe dafür? Und wäre Mr Hardie dann nicht selbst ein Fall für den Staatsanwalt? Der Richter hat doch deutlich gesagt, dass er als Mitglied der Mannschaft nicht einfach die Leute auffordern durfte, über Bord zu springen.« Ich erwähnte nicht, dass Hardie ein Wilder war, ein Kämpfer vor dem Herrn, ein Überlebenskünstler, aber völlig unzivilisiert. Ich erwähnte auch nicht, dass er jene, die sich seiner Obhut
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