In einem Boot (German Edition)
Planke, nicht wahr?«, mischte sich der Staatsanwalt ein, der zu jung war, um über eine große Lebenserfahrung zu verfügen, und zu keck, um sich dessen bewusst zu sein. »Ein Boot ist im Vergleich mit einer Planke der pure Luxus. Man kann beides schwerlich gleichsetzen. Im Falle der Planke befinden sich die beiden Männer im Wasser und in einen direkten Kampf um Leben und Tod verstrickt, ganz anders als die Menschen in einem Boot. Sie sagen, dass der Unterlegene die Chance hat, eine andere Planke zu finden, aber wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass einer, der aus einem Boot gestoßen wird, ein anderes Boot findet? Gleich null, würde ich sagen.«
»Tatsache ist, dass sich ein anderes Boot gleich in der Nähe befand«, sagte Mr Reichmann. »Nur wenige Stunden, bevor Mr Hardie über Bord ging, wäre Rettungsboot Nr. 14 beinahe mit diesem Boot zusammengestoßen.« Auf diese Idee wäre ich selbst nicht gekommen, und ich musste es Mr Reichmann und seinen Kollegen zugutehalten, dass sie in der Lage waren, mit nüchternem Verstand auch die verstecktesten Details und scheinbar unwichtige Zusammenhänge zu erkennen. Ich versuchte, Mr Reichmanns Blick einzufangen, um ihm zu verstehen zu geben, wie sehr ich seine Bemühungen zu schätzen wusste. Stattdessen wechselte ich einen Blick mit Hannahs Anwalt, der sein langes, blutleeres Gesicht ständig in meine Richtung wandte und sich dabei förmlich den dürren Hals verrenkte, sodass es aussah, als säße sein Kopf auf einem Scharnier. Das Ausmaß seines Interesses wunderte mich, und ich fragte mich, was Hannah ihm wohl über mich erzählt haben mochte.
»Außerdem«, fuhr Mr Reichmann fort, »wissen wir, dass mindestens zehn Rettungsboote erfolgreich zu Wasser gelassen wurden. Mr Hardie hatte eine Chance, wenn auch eine kleine, eins davon ausfindig zu machen. Ist denn die Chance, eine zweite Planke zu finden, größer, nur weil es sich um eine Planke und nicht um ein Boot handelt? Und wie sollen wir hier in diesem Gerichtssaal festlegen, in welchem Szenario die Chancen größer oder kleiner wären? Der Kern der Frage ist doch: Hat ein Mensch, der in einem überfüllten Rettungsboot sitzt, nur die Wahl, entweder gemeinsam mit allen unterzugehen oder gemeinsam mit allen gerettet zu werden, will er einer Mordanklage entgehen? Ist es ihm verboten, irgendetwas zur Rettung anderer oder zu seiner eigenen Rettung zu tun? Und wäre eine derartige Passivität nicht ein Schlag ins Gesicht der menschlichen Natur und des Instinkts zu überleben?«
»Ich könnte mir vorstellen, dass es Menschen gibt, die so edelmütig sind, das Boot freiwillig zu verlassen«, sagte der Ankläger mit einem aggressiven Rucken seines spitzen Kinns.
»Dürfte man denn nach Freiwilligen fragen?«, erkundigte sich Mrs Grants Anwalt.
»Man dürfte fragen, aber nichts fordern«, sagte der Ankläger. »Es dürfte keinerlei Druck ausgeübt werden oder sonstige Beeinflussung stattfinden.«
Der Richter fragte, ob eine Beeinflussung nicht allein schon in der Frage selbst läge und ob ein Matrose einem Passagier gegenüber nicht eine besondere Verpflichtung hätte. Alle Parteien stimmten ihm zu. »Allerdings besteht eine derartige Verpflichtung nicht zwischen den Passagieren«, bemerkte Mrs Grants Anwalt.
»Oder seitens der Passagiere der Mannschaft gegenüber«, ergänzte Mr Reichmann mit ernster Miene. »Aber ich bleibe dabei, dass die Frage eigentlich lauten müsste: ›Dürfen einige leben?‹ anstatt: ›Müssen einige sterben?‹ Wenn man davon ausgeht, dass einige oder alle sterben müssen, wenn nichts getan wird, sollte dann nicht etwas unternommen werden, um einige zu retten? Das ist meiner Meinung nach die essenzielle Frage, und ich sehe nicht, wie meiner Mandantin ein Vorwurf gemacht werden kann, weil sie diese Frage mit ›Ja‹ beantwortet hat, auch wenn die Antwort anderer möglicherweise ›Nein‹ lauten würde.«
Der Staatsanwalt sagte: »Sie setzen voraus, dass es sichergestellt war, dass durch die Handlungsweise der Menschen in dem Boot Leben gerettet werden würden. Aber es war doch wohl viel wahrscheinlicher, dass diese Leben nur verlängert statt tatsächlich gerettet werden. Es konnte doch niemand voraussagen, wann eine Rettung nahen würde, wenn überhaupt. Es hätte eine Stunde nach einer unumkehrbaren Entscheidung passieren können, genauso gut aber auch einen Tag oder eine Woche danach.«
»Sie vergessen den Sturm«, sagte Mrs Grants Anwalt, der sich oft spontan einmischte und
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