In einem Boot (German Edition)
eindeutig darauf anspielte, dass mir möglicherweise das gleiche Schicksal gedroht hätte wie Mr Hardie, wenn ich mich geweigert hätte, ihnen zu gehorchen. »Nicht direkt, nein«, antwortete ich. »Hatten Sie während dieser Zeit irgendwann einmal Todesangst?«, fragte er mich. »Ja«, lautete meine Antwort, denn ich war die ganze Zeit angsterfüllt gewesen, von dem Moment der Explosion an Bord der Zarin Alexandra an. Trotz meiner Antwort hakte Mr Reichmann immer wieder nach. Seine Stimme wurde feindseliger. »Mrs Winter, ich glaube, Sie lügen. Haben Sie sich bedroht gefühlt?«, fragte er erneut und erschreckte mich mit seiner Heftigkeit.
»Ja!«, rief ich aus. »Ich fühlte mich jede Sekunde bedroht!« Erst später ging mir die Genialität von Mr Reichmann auf, dem es gelungen war, die Geschworenen glauben zu machen, die Bedrohung, von der die Rede war, sei von Hannah und Mrs Grant ausgegangen.
In der nächsten Pause nahm mich Mr Reichmann beiseite und sagte: »Sie haben da draußen in dem Rettungsboot überlebt, und jetzt müssen Sie hier drin überleben. Und glauben Sie ja nicht, dass sich die Lage, in der Sie sich jetzt befinden, von Ihrer Situation im Boot unterscheidet.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte ich. Er bedachte mich mit einem vielsagenden Blick, einer Art von Blick, den sich Anwälte während einer unglaubwürdigen Zeugenaussage zuwerfen, und die Art von Blick, die Hannah und Mrs Grant ständig wechselten, sowohl hier im Gerichtssaal als auch damals im Boot. Er sagte: »Wenn Sie heute jemanden opfern müssen, um sich zu retten, dann garantiere ich, dass Sie diesmal nicht angeklagt werden.«
Als Vorbereitung für das Kreuzverhör hatte Mr Reichmann mir mehrere Tage lang eine Reihe von Fragen gestellt, die Mr Ligget und Mr Glover vorbereitet hatten. Die beiden jungen Anwälte spielten abwechselnd die Rolle des Anklägers. Ihre Fragen waren, anders als die von Mr Reichmann, dreist und aggressiv. Während dieses Vorgangs wandelte sich sogar der unscheinbare Mr Ligget: Seine bleichen Züge verkrampften sich, und seine roten Lippen verzogen sich zu einer verächtlichen Grimasse. Ich warf Mr Glover, der immer freundlich gewesen war und mir Halt gegeben hatte, einen gekränkten Blick zu, aber er schaute zur Seite, als sehe er mich überhaupt nicht. Als er die Rolle des Anklägers übernahm und begann, mich mit Fragen zu bestürmen, bemerkte ich ein kaum unterdrücktes Vergnügen angesichts der Tatsache, dass er nun die Zügel in der Hand hatte, als ob er ernsthaft die Seiten gewechselt und mich für eine Kränkung bestrafen würde, die ich ihm zugefügt hatte, derer ich mir aber nicht bewusst war. Ich bekam den Eindruck, dass er nicht der freundliche und mitfühlende Mensch war, für den ich ihn gehalten hatte. Als Mr Reichmann die Befragung übernahm, war ich froh, denn er benahm sich stets respektvoll und höflich mir gegenüber, spielte niemals jemand anderen als sich selbst, war immer mein treuer und unerschütterlicher Advokat im Angesicht der Anklage, die heute so überzeugend von seinen Assistenten verkörpert wurde. Mehrmals lobte er mich für mein »Tagebuch« und meinte, es sei bei der Vorbereitung seiner Verteidigung äußerst hilfreich gewesen. Allerdings herrschte die allgemeine Ansicht, dass es bei der Verhandlung nicht als Beweismittel vorgelegt werden solle.
Dank dieser Proben wusste ich, dass mir der Staatsanwalt unangenehme Fragen stellen und versuchen würde, mich aufs Glatteis zu führen und mich dazu zu bringen, etwas herauszuposaunen, das mich belasten würde. Aber es gab nichts Belastendes, was ich hätte sagen können, und obwohl mich das Verhör sehr mitnahm, brachte ich es doch einigermaßen gut hinter mich. Worauf ich überhaupt nicht vorbereitet war, war Mr Reichmann, der immer so gelassen und ruhig gewesen war und der sich jetzt mit einer Heftigkeit an mich wandte, die mich zutiefst erschütterte. Seine dröhnende Stimme ließ die Glasscheiben der Fenster erbeben, und einmal schlug er mit einem Buch so ungestüm gegen den Tisch, dass der Richter ihn ermahnte, ich sei doch keine Zeugin der Anklage, und er solle sich beruhigen.
Am Ende des Tages war mein Körper taub vor Erschöpfung, und als Mr Reichmann mich fröhlich anlächelte und mit seinen Lippen die Worte »Tut mir leid!« formte, wusste ich nicht, was ich denken sollte.
Ich war die erste der Angeklagten, die aussagen musste, und ich war unglaublich erleichtert, als es vorbei war. Ob ich bei den Geschworenen
Weitere Kostenlose Bücher