In einem Boot (German Edition)
gerührt, um das Boot auszuschöpfen oder sich um die Kranken zu kümmern. Aber als sie das den Geschworenen gegenüber zugab, klang es nicht im Mindesten verwerflich, denn schließlich hatte sie für den kleinen Charles sorgen müssen.
Der Staatsanwalt hatte ein Modell des Rettungsbootes herstellen lassen, mit vierzig runden Löchern, in die man neununddreißig kleine Kegel einstecken konnte. Die Kegel waren mit den Namen der Insassen beschriftet, und der Staatsanwalt reichte Anya einige davon und bat sie, sie an die Stellen zu stecken, an denen die Personen zum Zeitpunkt von Mr Hardies »Verhandlung« gesessen hatten. Mr Reichmann legte gegen die ganze Prozedur Einspruch ein und behauptete, dass die vierzig gebohrten Löcher in dem Modell implizierten, dass das Boot für vierzig Personen gebaut geworden sei, wo doch die Beweisaufnahme ergeben hätte, dass es kleiner gewesen war, als in den ursprünglichen Plänen vorgesehen war. Der Einspruch wurde abgewiesen, und Anya steckte den Kegel, der Mary Ann repräsentierte, neben den, der mich darstellen sollte. Sie fand die richtigen Löcher für Hannah, Mrs Grant und Mr Hardie und steckte dann ihren eigenen Kegel ein Stück hinter den von Mary Ann. »Sie glaubten, ich würde nichts mitbekommen, weil ich mit meinem Sohn beschäftigt war«, sagte sie. »Aber ich habe alles gesehen.« Und dann lud sie die ganze Last der Schuld auf uns ab. Sie beschrieb, wie Hannah und ich auf Befehl von Mrs Grant Mr Hardie angegriffen hatten, wie wir ihm gegen die Knie und Beine traten, bis er in unseren Armen zusammenbrach. Sie erzählte, wie Mary Ann ohnmächtig geworden war, dass aber Hannah und ich gut allein mit Mr Hardie fertig geworden waren, der seinen verletzten Arm nicht mehr hatte gebrauchen können. Mit einem hatte sie recht: Wir hatten kaum auf sie geachtet, hatten sie für schwach gehalten, aber wenn man darüber nachdenkt, hatte sie erreicht, was sie sich vorgenommen hatte: Sie rettete ihren Sohn.
Mr Reichmann zwang sie zuzugeben, dass ich, anders als die meisten der anderen Frauen, nicht gegen Mr Hardie gestimmt hatte. Auf weitere Nachfragen hin bestätigte Anya, dass ich nach Mr Hardies Tod auf meinen Platz neben Mary Ann zurückgekehrt war und so gut wie nichts mehr mit Hannah und Mrs Grant zu tun gehabt hatte. Sie meinte, sie hätte uns von ihrer Position aus gut sehen und auch einiges von dem hören können, worüber wir sprachen.
»Und worüber sprachen sie?«
»Ich glaube, sie stritten sich, denn Mary Ann schien sehr aufgewühlt zu sein. Aber sie haben sich wohl wieder versöhnt, denn während der letzten Tage klammerten sie sich fast ausschließlich aneinander, außer wenn Grace Mr Nilsson beim Steuern des Bootes half. Mary Ann hatte ihren Kopf auf Grace’ Schoß gelegt, als sie starb. Sie hatte Grace wohl ihren Verlobungsring anvertraut, damit sie ihn Robert geben würde – Robert war Mary Anns Verlobter –, denn Grace zog ihn Mary Ann ab und steckte ihn an ihren Finger, ehe Mary Anns Leiche ins Meer geworfen wurde.«
Diesem Bericht lauschte ich mit großem Interesse, denn ich erinnerte mich kaum noch an die Tage, die auf Mr Hardies Tod folgten. Etwa eine Woche später wurden wir gerettet. Ich hatte mich schon oft gefragt, was genau mit Mary Ann geschehen war. Ich glaubte mich zu erinnern, dass ich dachte, Robert würde Mary Anns Ring gewiss gerne haben, aber wenn ich ihn ihr abgenommen hatte, so hatte ich ihn verloren, denn ich besitze ihn nicht mehr.
Nachdem der Richter die Verhandlung vertagt hatte, wurde mir das ganze Ausmaß dessen bewusst, was die Zeugenaussagen bewirkt hatten, und ich sagte zu Mr Reichmann: »Es ist alles aus. Nach dem, was heute war, werde ich gewiss nicht freigesprochen.« In seinen Augen funkelte eine unerklärliche Freude, und er zog mich in eine Nische des Korridors und sagte: »Sie irren sich! Die Aussage über die Abstimmung, bei der Sie sich nicht gegen Hardie ausgesprochen haben, ist ein wahrer Glücksfall! Und sowohl Mrs Robeson als auch Greta haben Sie eindeutig von den beiden anderen Angeklagten isoliert. Aber warum haben Sie mir die Sache mit Mary Ann nicht erzählt?«
»Was denn?«, fragte ich.
»Dass ihr Kopf in Ihrem Schoß lag, als sie starb.«
»Das mag so gewesen sein, aber ich erinnere mich nicht mehr. Nichts von diesem Tag ist mir im Gedächtnis geblieben. Sie haben doch meinen Bericht gelesen. Darin steht alles, was ich noch weiß. Wenn ich mich an mehr erinnern würde, hätte ich es aufgeschrieben, aber das
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