In einem Boot (German Edition)
meiste von diesen letzten Tagen ist mir gänzlich entfallen.«
»Es wird Zeit, dass Sie aufhören, sich so passiv zu gebärden«, sagte Mr Reichmann, zog seinen Mantel an und wollte sich in den Feierabend verabschieden.
Ich richtete mich zu meiner vollen Größe auf, wie ich es lange nicht mehr getan hatte, und als er sich den Mantel zugeknöpft hatte, blickte ich ihm in die Augen, wie es ein Gleichgestellter tun würde. »Glauben Sie, ich spiele Ihnen etwas vor, Mr Reichmann?« Er schaute mich ein paar Sekunden lang scharf an, dann zwinkerte er mir zu und sagte: »Nein, nein, es hätte heute nicht besser laufen können.« Er hatte meine Frage nicht beantwortet, aber seine Worte schenkten mir eine wilde Hoffnung, und so wünschte ich ihm mit warmer Stimme einen guten Abend. Dann allerdings dachte ich, dass ich zwar Grund hatte, optimistisch zu sein, aber noch lange nicht frei war. »Vermutlich warten Ihre Frau und Ihre Kinder schon mit dem Abendessen auf Sie«, sagte ich und versuchte, die Bitterkeit aus meiner Stimme zu verbannen, die sich bei dem Gedanken an das, was Henry und ich verloren hatten, einschleichen wollte.
»Ach du liebe Güte, nein!«, rief er aus. »Eine Frau wäre mir nur im Weg.«
»Dann haben Sie noch nicht die Richtige gefunden. Jeder weiß, dass hinter einem erfolgreichen Mann eine kluge Frau steht. Das ist einer der Gründe, warum Henry mich geheiratet hat.«
»Kümmern Sie sich nicht um mich. Konzentrieren Sie sich ganz auf sich. Sie sollten möglichst bald einige Entscheidungen bezüglich Ihrer Zukunft treffen.«
Trotz der schwerwiegenden Anklage gegen mich musste ich lachen. Mr Reichmann war brillant und machte seine Arbeit außerordentlich gut, aber er war trotzdem ein Mann, und Männer haben nur wenig Ahnung davon, welche Entscheidungen eine Frau zu treffen hat.
Entscheidungen
Es machte mir nichts aus, dass ich während der Gerichtsverhandlung als unentschlossen dargestellt wurde. Es ist richtig, dass ich mich weder für noch gegen den Plan, Hardie umzubringen, ausgesprochen hatte, aber ob es auf die Strapazen jener Tage im Rettungsboot zurückzuführen war oder ob es einfach nicht in meiner Natur liegt, starke Gefühle zu entwickeln, kann ich nicht sagen. Selbst meine Heirat mit Henry, die mir aus einer ganzen Reihe von Gründen sehr entgegenkam, hat in mir nicht jene überschäumende Leidenschaft ausgelöst, die Mary Ann beschrieb, wenn sie von Robert erzählte. Gelegentlich empfand ich wohl etwas Ähnliches, aber es war kein angenehmes Gefühl – es grenzte an Hysterie, und ich hatte den Drang, es zu unterdrücken oder zumindest zu kontrollieren. Außerdem waren jene, die ihren Emotionen nachgaben und sich ihnen unterwarfen, wohl kaum besser dran als ich: Der Diakon sprang über Bord, Hardie und Mary Ann sind tot, und Mrs Grant und Hannah sitzen im Gefängnis. Letzteres trifft zwar auch auf mich zu, aber ich habe mich nie als ihre Verbündete betrachtet, weder damals noch heute.
Als sich abzeichnete, dass sich Mrs Grant durchsetzen würde, schlug ich mich, ohne zu zögern, auf ihre Seite, und am Ende war Mr Hoffman der Einzige, der noch hinter Hardie stand. Nachdem ich mich einmal entschieden hatte, zauderte ich nicht mehr und nahm meinen Entschluss auch nicht mehr zurück. Niemand hat mich gezwungen, und trotz des wiederholten Drängens meines Anwalts weigerte ich mich zu behaupten, ich wäre von den Frauen durch offene oder versteckte Drohungen angestiftet worden. Er musste sich damit zufrieden geben, den Geschworenen meine Lage aus seiner Sicht zu schildern: »Versetzen Sie sich in Grace’ Lage, konfrontiert mit diesen starken und unbeugsamen Frauen in einem knapp sieben Meter langen Boot inmitten des weiten Ozeans. Sie musste gerade mit ansehen, wie diese Frauen einen Mann zum Tode verurteilt haben. Würden nicht auch Sie selbst aus Angst um Ihr Leben tun, was man von Ihnen verlangt?«
Ich bestätigte nicht, dass dies meine Motivation gewesen war. Ich widersprach Mr Reichmann sogar, als ich in den Zeugenstand gerufen wurde. Aber er drehte sich nur zu den Geschworenen um und sagte: »Es ist nicht zu übersehen, dass sie immer noch Angst vor ihnen hat.«
Dieser Punkt wurde während der Verhandlung immer wieder aufgegriffen. Einmal fragte mich der Staatsanwalt, ob eine der Frauen jemals direkt von Mr Hardie bedroht worden sei, und ich musste verneinen. Mein Verteidiger drehte die Frage um und wollte wissen, ob ich je von Hannah oder Mrs Grant bedroht worden sei, wobei er
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