In einem Boot (German Edition)
einen guten Eindruck hinterlassen hatte, konnte ich nicht beurteilen; ihren Mienen war jedenfalls nichts abzulesen. Müde und den Tränen nah, senkte ich die Augen. Meine Hände zitterten, und ich merkte, dass ich meine Kraft, die in den Wochen zuvor fast zur Gänze aufgezehrt worden war, noch nicht völlig wiedergefunden hatte. Im Vergleich zu meinen Mitangeklagten wirkte ich wohl schwach und elend.
Rückblickend ist mir klar, dass Mr Reichmann mich von Anfang an von den beiden anderen Frauen abgrenzen wollte, was nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, was für einen furchterregenden Anblick Mrs Grant während der Verhandlung bot. Sie trug nur Schwarz. Ihr Haar, das sie im Boot zu einem festen Knoten an ihrem Hinterkopf gebunden hatte, war kurz geschoren, und obwohl sie durch die Strapazen der letzten Wochen gut und gerne zwanzig Pfund verloren hatte, war sie immer noch von robuster und kräftiger Statur. Es erstaunt nicht, dass sich die anderen an sie klammerten, als wäre sie Mutter Erde persönlich. Es war nie die Rede von einem Mr Grant oder kleinen Grants – sie existierte für sich selbst, isoliert von allem anderen. Sie allein weinte nicht um das, was verloren war. Sie weinte natürlich auch nicht während des Prozesses und – natürlich – sprach das gegen sie. Hannah ist groß und schlank, und sie strahlt Wut und Gefahr aus. Sie berichtete mir, dass ihre Anwälte sie davon zu überzeugen versuchten, ihre äußere Erscheinung während der Verhandlung zu verändern und Kleider zu tragen, wie ich sie trug, aber sie wollte nichts davon wissen und zog weiterhin Männerhosen an. Ich dagegen folgte bereitwillig jeder Anweisung in dieser Richtung: Ich trug entweder ein taubengraues Kostüm oder ein hochgeschlossenes dunkelblaues Kleid mit Spitze an den Ärmelsäumen. Beides wurde mir von meinen Anwälten besorgt, allerdings weiß ich nicht, wer dafür bezahlt hat. Hannah sagte, sie besäße mehrere Kleider in Grau und Grün, die ihr Ehemann ihr aus Chicago gebracht hatte, aber sie wollte sie nicht anziehen. Die Tatsache, dass sie verheiratet war, verblüffte mich über alle Maßen, denn sie hatte ihren Mann vorher nie erwähnt. Es ging das Gerücht um, dass sie ihn nicht sehen wollte und die Scheidung eingereicht hatte, aber darüber sprach sie nicht mit mir. Sie versuchte auch nicht, die feuerrote Narbe auf ihrer Wange zu verbergen. Statt Mitgefühl zu erwecken, gab sie ihr den Anschein einer Freibeuterin, aber als ich ihr das sagte, erwiderte sie: »Eine Freibeuterin soll ich sein? Dann steht mir ja ins Gesicht geschrieben, wie ich mich in meinem Herzen fühle.«
Bevor ich meinen Platz im Rettungsboot einnahm, habe ich nie viel über das Meer nachgedacht, nicht einmal an Bord der Zarin Alexandra . Es war lediglich ein pittoresker Rahmen für mein Leben mit Henry, eine Fläche aus sich verändernden Blautönen oder die Ursache eines lästigen körperlichen Unwohlseins, eines leichten Schwindelgefühls, aber nicht mehr. Manchmal glaube ich, dass ich diese einundzwanzig Tage auf dem offenen Meer erdulden musste, damit ich niemals mehr auf den Gedanken käme, die Natur als einen Garten Eden zu betrachten und Macht als etwas, das Henry besaß, wenn er den Schlüssel zum Tresorraum einsteckte, oder Richter Potter, wenn er über uns zu Gericht saß.
Je weiter das eigentliche Ereignis in die Ferne rückt, je mehr Theorien, Geschichten, Gerüchte und Aussagen darüber kursieren, desto verschwommener und unklarer wird es. Es ist nun weniger eine Angelegenheit objektiver Realität – eine Sache von Meer, Himmel, Hunger und Kälte –, sondern mehr ein Gemisch aus Kommentaren und Spekulationen von Journalisten und Moralisten. Es gibt niemanden, der nicht auf die eine oder andere Art seine Meinung dazu kundgetan hätte, was Hannah zu der Frage veranlasste, warum den beiläufigen Bemerkungen irgendwelcher Unbeteiligter überhaupt Gewicht beigemessen werde. Ich weiß es nicht. Ich frage mich immer wieder, was Henry getan hätte. Henry war ein Mann der Tat. Wir hätten ihn im Rettungsboot gut gebrauchen können, und wer weiß, wie sich die Dinge entwickelt hätten, wenn er bei mir gewesen wäre. Mit meinem Ehemann an meiner Seite hätte man mich sicherlich nicht angeklagt und mich auch ganz gewiss nicht in den Zeitungen beschuldigt, »männerfeindlich« gesinnt zu sein.
Ich vermisse Henry. Bei ihm hatte ich nicht ständig das Gefühl, Charakter beweisen zu müssen, da sein eigener Charakter so ausgeprägt und
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