In einer anderen Haut
hätte. Er hatte geglaubt, er würde den Jungen lieben, doch in jenen Sekunden erkannte er die Wahrheit: Er hatte sich nur ihretwillen mit dem Jungen arrangiert.
Er war so enttäuscht von sich selbst, schämte sich so sehr, dass er nur noch wegwollte. Während er den Frühling bei ihr verbrachte, am Wochenende mit Mathieu in den Park ging, mit seiner schönen, herzzerreißend verletzlichen Frau im Bett lag, dachte er ununterbrochen darüber nach, wie er aus ihrem Leben fliehen konnte.
Er hatte Martine erzählt, das Jobangebot aus dem Norden sei aus heiterem Himmel gekommen, was sogar stimmte – auch wenn es ihn wochenlange Bemühungen, jede Menge subtiler Fingerzeige und freundliche E-Mails an alte Bekannte gekostet hatte, mit denen er schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesprochen hatte. Und als erMartine eröffnet hatte, dass er mit dem Gedanken spiele, die Stelle anzunehmen, es aber erst mit ihr besprechen wolle, war es für ihn längst beschlossene Sache gewesen.
An einem trüben Donnerstagmorgen traf er sich mit Thomasie Reeves vor dem Krankenhaus, in dem seine Mutter im Koma lag. Sie hatten sich telefonisch verabredet; der Junge hatte langsam und gekünstelt gesprochen, als käme er von einem anderen Kontinent. Er schien zu glauben, dass die Ärzte Mitch mehr Gehör schenken würden als ihm, dass sich alles ändern würde, sobald Mitch seine Mutter mit eigenen Augen gesehen hatte. Thomasie kam mit leicht seitwärts gerichteten, beschwingten Schritten die Straße entlang; als er zu ihm trat, schlug Mitch eine nahezu überwältigende Marihuanawolke entgegen. Thomasie roch, als hätte er darin gebadet. Seine Augen waren rot, seine Gesichtszüge matt; seine gesamte Persönlichkeit schien ein paar Stufen heruntergedimmt zu sein. Mitch verstand ihn nur allzu gut; an Thomasies Stelle hätte er sich vor diesem Besuch ebenfalls betäubt.
Als er die Hand ausstreckte, starrte Thomasie sie einen Augenblick halb verwirrt, halb fasziniert an, ehe er sie schüttelte, dann gingen sie hinein. Die Krankenschwestern, die an ihnen vorbeihasteten, rochen das Dope, und eine verzog missbilligend das Gesicht. Mitch musterte sie kurz, woraufhin sie die Augen verdrehte. Im Wartezimmer saß ein Vater, der ein zwei- oder dreijähriges Mädchen in den Armen hielt. Sein Gesicht war ausdruckslos; die Wangen des Mädchens schimmerten in einem ungesunden Dunkelrot. Ihnen gegenüber saß eine schlafende alte Frau, das Kinn war ihr auf die Brust gesackt.
Mit angespannter Miene führte Thomasie ihn einen mit Linoleumausgelegten Korridor hinunter. Er trug dieselbe Windjacke wie sonst und einen blauen Rucksack. Sein Haar hing dünn und schlaff herab. Mitch stieg ein anderer, muffiger Geruch in die Nase. Er fragte sich, ob sich überhaupt jemand um den Jungen kümmerte – ihm sagte, dass er baden sollte, darauf achtete, dass er etwas zu essen bekam. Bei jedem ihrer Treffen hatte er dunkle Ringe unter den Augen.
Thomasie blieb kurz vor einer geschlossenen Tür stehen, ehe er sie öffnete. Es war ein Zweibettzimmer; das eine Bett war leer, und die Frau in dem anderen musste die Mutter des Jungen sein. Der Zeitung zufolge war Gloria Reeves erst neununddreißig, aber sie sah viel älter aus; ihr Gesicht war von Flecken und Runzeln übersät. Mitch warf einen Blick zu Thomasie hinüber, der unbedingt hatte hierherkommen wollen; unschlüssig verharrte er am Fußende des Betts.
Die Augen seiner Mutter waren geschlossen; sie hing am Tropf, und neben dem Bett stand ein Monitor, mit dem ihr Herzschlag überwacht wurde. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Mitch bemerkte, dass der Daumen und der Mittelfinger ihrer Rechten sowie ein Stück ihres Ohrs fehlten. Ihre Nasenspitze war schwarz. Obwohl sie schwer atmete, lag sie reglos da wie eine Wachsfigur.
Mitch sah draußen einen Arzt vorbeigehen, nickte Thomasie kurz zu und trat auf den Flur. Er hatte ihn ein paar Tage zuvor kennengelernt, einen freundlichen Naturburschen aus Victoria, der erst kürzlich sein Examen gemacht und für ein Jahr ebendiese Rotationsstelle angenommen hatte.
«Bobby», sprach ihn Mitch an. «Wie geht’s?»
Der junge Arzt schüttelte nicht nur seine Hand, sondern ergriff gleichzeitig seinen Oberarm und musterte ihn besorgt. «Ich sehe, du bist mit Thomasie hier», sagte er. «Eigentlich hatten wir ihn gebeten, hier nicht mehr so häufig vorbeizukommen.»
«Warum? Ein Kind wird doch wohl noch seine Mutter besuchen dürfen, oder?»
«Er stiftet nur Unruhe», erwiderte Bobby. «Er
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