In einer anderen Haut
ist meistens bekifft und legt sich sogar zu ihr ins Bett. Und manchmal ist er besoffen und krakeelt hier rum. Das stört die anderen Patienten, und seiner Mutter tut er damit auch keinen Gefallen, egal wie weggetreten sie sein mag.»
«Wie ist ihr Zustand?»
«Schlecht», sagte Bobby nüchtern. «Na gut, es besteht immer eine minimale Chance, aber hier steht es eins zu einer Million. Ich fürchte, sie hat da draußen im Schnee einen irreparablen Hirnschaden erlitten.»
«Das heißt, sie kommt nie wieder aus diesem Bett heraus?»
«So weit würde ich nicht gehen. Ihr Zustand hat sich verschlechtert, und es ist kaum noch neuronale Aktivität festzustellen. Wenn sie zwischendurch mal die Augen aufschlägt, ist Thomasie immer ganz aufgeregt, dabei handelt es sich lediglich um Muskelreflexe, die nichts zu bedeuten haben.»
Mitch nickte, und Bobby verpasste ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Arm, ehe er den Korridor hinunterging, leise vor sich hin pfeifend, jung und voller Energie.
Als er wieder in das Zimmer trat, bot sich ihm ein erstaunlicher Anblick. Thomasie lag halb auf dem Bett, die Füße am Boden, den Oberkörper an seine Mutter gepresst, den Kopf in ihrer Halsbeuge vergraben. Offenbar spürte er Mitchs Anwesenheit, denn er richtete sich abrupt auf, wich seinem Blick aus und schob etwas unter ihr Kissen – ein Fläschchen Korn, das sich anscheinend in seinem Rucksack befunden hatte. Dann sah er Mitch verstohlen an, ohne ein Wort zu sagen. Zusammen verließen sie das Zimmer.
Draußen vor dem Krankenhaus sagte Mitch: «Vielleicht solltest du deine Mutter lieber doch nicht so oft besuchen, Thomasie. Ich bin mir nicht sicher, ob du ihr damit hilfst.»
Der Junge zuckte verlegen mit den Schultern, als hätte Mitch ihm ein Kompliment gemacht. «Ach was», sagte er. «Ich habe ja sonst nichts zu tun.» Und nun sah er Mitch direkt in die Augen.«Reden Sie mit denen», sagte er. «Ich komme echt gern hierher.» Dann ging er davon, stemmte sich mit hochgezogenen Schultern gegen den Wind.
Einige Tage vergingen, ohne dass er von Thomasie etwas sah oder hörte. Dann rief eines windigen Freitagnachmittags der junge Arzt zwischen zwei Terminen an.
«Ich wollte dir nur mitteilen», sagte Bobby, «dass Gloria Reeves heute Morgen gestorben ist. Multiples Organversagen. Thomasie war bei ihr.»
«Danke für die Information», sagte Mitch. «Und wie geht es Thomasie?»
«Er war sehr still. Hat fast nichts gesagt. Vielleicht erleichtert es ihn ja, dass sie endgültig von uns gegangen ist.»
«Vielleicht», antwortete Mitch und legte auf. Den Optimismus des Arztes fand er so unangebracht, dass es an eine Beleidigung grenzte. Allein saß er in seinem Sprechzimmer und dachte an die Frau, die im Schnee eingeschlafen war, an ihre kleine Tochter, die an ihrer kalten Brust gezittert hatte.
Die ganze Welt war weiß
. Die Vorstellung löste eine geradezu schmerzhafte Sehnsucht nach Mathieu und Martine in ihm aus, doch als er in Montreal anrief, ging niemand ans Telefon. Anscheinend hatte sie keine Lust, mit ihm zu reden.
Am nächsten Tag beschloss er herauszufinden, wo Thomasie wohnte. Was keinerlei Problem darstellte. Iqaluit war ein kleiner Ort und fast jeder mit jedem verwandt oder sonst wie verbandelt. Wie sich herausstellte, war eine der Nachtschwestern die Cousine von Thomasies Vater, doch als Mitch ihr erzählte, er habe gehört, dass er unten in Sarnia lebte, presste sie die Lippen aufeinander undschüttelte den Kopf. Sie war eine tüchtige, kompetente Krankenschwester, die in Montreal ihr Diplom gemacht hatte, bevor sie in den Norden zurückgekehrt war. Über ihr Leben in der Stadt ließ sie sich lang und breit aus, während sie sich über ihre Familie mehr oder weniger ausschwieg.
«Thomasie war ein paarmal in meiner Sprechstunde», sagte Mitch so beiläufig wie möglich.
Sie sah zu ihm auf. Sie war klein, aber kräftig und hatte lange dunkle Haare, die sie mit einem Stirnband zähmte, das ihr eine unpassende Mädchenhaftigkeit verlieh. «Er hat eine Zeit lang bei uns gewohnt», sagte sie. «George und Gloria haben schon immer zu viel getrunken, und manchmal ist Thomasie bei uns untergekrochen. Ebenso wie drei von den Kids meiner Schwester, nachdem sie mit ihrem zweiten Mann abgehauen war. Aber irgendwann müssen eben auch Kinder lernen, auf eigenen Beinen zu stehen.»
Mitch errötete, da sie instinktiv gespürt hatte, dass er sie indirekt angegriffen hatte. «Ja, natürlich», sagte er. «Ich wollte
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