In einer anderen Haut
keineswegs andeuten, dass …»
«Er ist ein netter Junge», fuhr sie fort. Ihr Blick wurde wieder weicher, und sie gab ihm die Adresse, ehe sie einen Stapel Krankenakten an sich nahm und leise den Flur hinunterging.
Und so machte sich Mitch mit einer Tüte Kekse zu dem Jungen auf. Ihm war kein anderes Mitbringsel eingefallen. Thomasies Elternhaus war, so wie die meisten Häuser in Iqaluit, ziemlich klein; im Garten stand ein weißes Dreirad mit rosafarbenen Bändern, die schlaff von den Lenkergriffen herunterhingen, außerdem lagen verdreckte Puppen und ein ausgebleichter Strandball herum. Im beständigen Sonnenlicht ließ sich unmöglich sagen, ob jemand zu Hause war. Er klopfte an der Haustür, doch im Innern des Hauses war nichts zu hören. An der Straße vor dem Haus parkte kein Wagen, aber er wusste nicht mal, ob Thomasies Familie überhaupt ein Auto besaß. Er klopfte erneut, und diesmal drang ein Geräusch an seine Ohren, das sich anhörte, als würde jemand etwas über den Bodenschleifen. Er klopfte ein drittes Mal, und eine Minute später öffnete Thomasie die Tür.
Er trug eine Jogginghose, ein langärmliges Hemd und über seinen Schultern eine Bettdecke. Mitch, der ihn noch nie ohne seine rote Windjacke gesehen hatte, erschrak regelrecht darüber, wie dünn er war. Thomasie starrte Mitch an, als hätte er ihn noch nie gesehen; sein Blick schien auf alles und nichts gerichtet zu sein, und seine Haare waren ein einziges Durcheinander. Er war total bekifft.
Hinter ihm ertönte eine Mädchenstimme. «Wer ist denn da?» «Ich habe gehört, dass deine Mutter gestorben ist», sagte Mitch. «Ich wollte wissen, wie es dir geht.» Als Thomasie nichts erwiderte, hielt er ihm die Kekse hin, die der Junge wortlos entgegennahm. Er raffte die Decke um sich, riss die Tüte auf und begann zu essen. Um ihn herum fielen Krümel zu Boden.
«Ich habe gefragt, wer da ist!», rief das Mädchen ungeduldig. «Oder wieso stehst du da in der offenen Tür?» Mitch hörte Schritte, und dann schubste sie Thomasie beiseite und musterte ihn. «Oh», sagte sie – offensichtlich war sie im Bilde, wer er war. Sie war in Thomasies Alter, trug Jeans und Kapuzenjacke und hatte ihr Haar zu einem straffen Pferdeschwanz zusammengebunden. «Das ist meine Freundin», sagte Thomasie. «Fiona.» «Hi», sagte Mitch verlegen, und sie nickte ihm zu. «Er hat Kekse mitgebracht», sagte Thomasie.
«O Mann»
, sagte Fiona. «Jetzt lass ihn doch endlich rein.» Sie zerrte Thomasie an seiner Decke zurück ins Haus und bedeutete Mitch, hereinzukommen, wies auf ein Sofa und dirigierte Thomasie zu einem Sessel vis-à-vis. Ihre Gestik war streng und bestimmt und in Anbetracht ihrer Jugend und ihrer Fragilität umso beeindruckender. Sie hatte hier die Hosen an. Mitch hatte erwartet, dass hier das nackte Chaos herrschte, doch tatsächlich war alles sauber und aufgeräumt. Überall erinnerten Dinge an die tote Mutter und das tote Schwesterchen: mit Fingerfarbe gemalte Bilder an den Küchenwänden,ein Kalender mit eingekringelten Tagen neben der Tür, darunter auf dem Boden ein Haufen von Schühchen und kleinen Stiefeln.
«Weshalb sind Sie gekommen?», fragte Fiona eher neugierig als streitlustig.
«Ich wollte mein Beileid aussprechen», antwortete Mitch, doch sie sah ihn an, als hätte er in einer fremden Sprache gesprochen. Vielleicht konnte sie sich auch einfach nicht vorstellen, was das bringen sollte. Als sie nach einer langen Pause immer noch nichts erwiderte, versuchte Mitch es anders: «Wohnst du hier?»
Sie blickte zu Thomasie hinüber, der in seinen Schoß starrte, komplett auf die Kekse fixiert. In ihrer Miene spiegelten sich gleichermaßen Enttäuschung, Besorgnis und Zuneigung. «Ich bin seine Cousine», sagte sie, bemerkte dann aber Mitchs irritierten Gesichtsausdruck. «Cousine zweiten Grades. Meine Eltern wohnen in der Nähe vom Krankenhaus. Nach der Sache mit seiner Mom bin ich hergekommen, um mich ein bisschen um ihn zu kümmern.»
«Fiona kümmert sich um alle», sagte der Junge.
«Halt die Klappe, Thomasie», sagte sie leise, aber wohlwollend.
«An unserer Schule ist sie die Beste. Sie will Rechtsanwältin werden.»
Fiona seufzte, als hätte sie all das schon tausendmal gehört, als wünschte sie, er hätte sich dieselben Ziele gesetzt.
«Prima», sagte Mitch. Er wandte sich an Thomasie: «Ich habe mir Sorgen gemacht und wollte wissen, ob so weit alles mit dir in Ordnung ist.»
Fiona sah ihn weiter an, mit einer Unmittelbarkeit,
Weitere Kostenlose Bücher