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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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habe ich sie dann angesehen: ‹Hast du irgendwas gesagt?›»
    Es war das erste Mal, dass er etwas von sich aus erzählte, und sie nickte nur, da sie ihn nicht unterbrechen wollte.
    «Kein Wunder, dass sie mich verlassen hat», sagte er, klang aber nicht verbittert dabei.
    Sie lächelte ermutigend, während er ihr erst prüfend ins Gesicht sah, dann den Blick über ihre Kleidung schweifen ließ.
    «Hatten
Sie
irgendwas gesagt?»
    «Ich hatte gedacht, wir könnten vielleicht zusammen Ski fahren.»
    Es war, als würde er den Schnee erst jetzt bemerken, als er aus dem Wohnzimmerfenster sah. «Ich kümmere mich nie ums Wetter», sagte er leise, wie zu sich selbst. «Was stimmt bloß nicht mit mir?»
    Grace schwieg. Es kam ihr wie eine rhetorische Frage vor, ganz davon abgesehen, dass sie die Antwort nicht kannte.
    «Ich würde gern mitkommen», sagte er nach einer Pause, «aber ich habe keine Ski mehr.» Er sah sie an und zuckte mit den Schultern, und plötzlich war die Erinnerung an jenen Tag wieder da, an dem sie sich kennengelernt hatten.
    «Ich habe Ihnen welche mitgebracht», sagte Grace. Als er die Stirn runzelte, erklärte sie: «Sie haben meinem Exmann gehört. Er war ungefähr so groß wie Sie. Die Skier müssten jedenfalls ihren Zweck erfüllen. Ihre Stiefel haben Sie doch noch, oder? Seine könnten Ihnen zwar passen, aber ich bin mir nicht sicher.»
    Tug blies die Wangen auf und ließ dann langsam die Luft entweichen. Offensichtlich war er froh, dass sie ihm keine neuen Ski
gekauft
hatte.
    «Das Schicksal aller Geschiedenen», sagte er. «Überall stehen alte Sachen herum.»
    Grace beugte sich über den Tisch und berührte ihn am Handgelenk, so plötzlich, dass ihr die Geste erst bewusst wurde, als es bereits zu spät war. Sie spürte seine warme Haut und den Schmetterlingsschlag seines Pulses. Als sich ihr Blick mit dem seiner ruhigen, grünen Augen traf, wusste sie, dass die gleichsam elektrische Spannung, die zwischen ihnen herrschte, nicht nur von ihr ausging. Und auch er errötete.
    «Lassen Sie uns einfach fahren», sagte sie. «Bevor Sie es sich noch anders überlegen.»

    Statt zum Mount Royal zu fahren, nahmen sie die Trans-Canada zu einem Naturpark auf West Island. In den ersten Jahren ihrer Ehe war sie dort oft mit Mitch langlaufen gewesen. Sie hatte die Familien um sich herum beobachtet, die mit Kindern und Hunden unterwegs waren, und gedacht, sie würde ihre Zukunft vor sich sehen. Eins hatte sie definitiv nicht vor ihrem inneren Auge gesehen: sich und Tug, zwei Menschen, die sich so gut wie überhaupt nicht kannten und nun dabei waren, Skier und Stöcke zu entladen. Während der Fahrt hatten sie sich nicht viel zu sagen gehabt, aber sie war trotzdem nicht unglücklich. Sie war froh, dass er mitgekommen war, und außerdem freute sie sich auf die Skitour.
    Dann machten sie sich auf in den Wald. Tug fuhr voran, bewegte sich rhythmisch und behände. Mit Mitchs Skiern schien er gut klarzukommen. Alte Spuren waren von frischem Schnee bedeckt, und beide fühlten sie das beglückende Knirschen und die feste Struktur der Loipe unter ihren Brettern. Vor sich sah sie ihren Atem. Links und rechts der Loipe sprenkelten Piniennadeln den Schnee. Als sieeinen Hügel hinaufstiegen, hörte sie Tug leise schnaufen. Die Sonne schien. Während sie ihm zusah, dachte Grace unvermittelt:
Du musst doch verrückt sein, nicht mehr leben zu wollen
.
    Eine halbe Stunde später erreichten sie eine Lichtung und legten eine Pause ein, um wieder zu Atem zu kommen. Ein paar Wintervögel pickten an den kahlen Bäumen. Als sie ihn fragte, ob er einen Schluck Wasser wolle, wandte er sich zu ihr um. Seine Wangen waren rot, seine Augen hell und klar. Er schien bester Dinge zu sein.
    «Als ich in Genf gelebt habe», sagte er, «bin ich dauernd Ski gefahren. Ich habe sogar für einen Biathlon trainiert. Aber dann musste ich wieder zurück, bevor ich teilnehmen konnte.»
    «Was haben Sie denn in Genf gemacht?», fragte Grace.
    Er reichte ihr die Flasche zurück und bückte sich, um seinen Stiefel in der Bindung zurechtzurücken. «Austauschstudent», sagte er, ohne zu ihr aufzusehen.
    Sein ausweichender Tonfall ließ darauf schließen, dass er log, aber sie verzichtete darauf, weiter nachzuhaken. «Die Schweizer Berge sind bestimmt spektakulär», sagte sie. «Aber das hier ist auch nicht schlecht.»
    «Nein.» Sie konnte seine Miene nicht deuten, hoffte aber, sie sollte seine Erleichterung darüber ausdrücken, dass sie keinen Druck

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