In einer anderen Haut
Telefonnummer. «Das bin ich», sagte sie. «Sie können mich jederzeit anrufen, wenn Sie wollen.»
«Und wenn ich’s nicht tue?», gab er zurück. «Lassen Sie mich dann in Ruhe?»
Grace war einen Moment lang sprachlos. «Ich weiß es nicht», sagte sie dann.
Ein weiteres Lächeln, gleichermaßen erstaunt, zynisch und amüsiert, erschien auf seinen Zügen, und plötzlich sah er wie ein anderer Mensch aus, jünger und weicher. Nun fiel ihr auch auf, wieattraktiv er war. Er hatte ein hübsches Lächeln, ebenmäßige weiße Zähne und ein Grübchen auf der linken Seite. «Sie sind irgendwie anders», sagte er. «Vielleicht komme ich noch dahinter, inwiefern genau.»
Sie erwiderte sein Lächeln. Im selben Augenblick räusperte sich die blonde Verkäuferin, um ihn auf neue Kunden aufmerksam zu machen, und so nahm sie ihre Tüte und ging.
Natürlich rief er nicht an. Sie hatte auch nicht damit gerechnet. Sie waren Fremde. Also bemühte sie sich, alles zu vergessen – ihn, den Vorfall auf dem Berg, sein unerwartet weiches Lächeln. Doch in stillen Momenten, wenn sie nach Hause fuhr, Wäsche zusammenlegte oder unter der Dusche stand, flackerten Bilder vor ihrem inneren Auge auf. Keine Erinnerungen, sondern Bilder von Dingen, die sie nicht gesehen hatte: Tug, wie er auf seinen Skiern in den Wald glitt. Wie er die Schlinge um seinen Hals legte. Seinen Körper, der schwer und lautlos in den Schnee fiel. Wie er darauf gewartet hatte, dass sie vom Chalet zu ihm hinunterkam, darauf, von ihr gefunden zu werden.
Das Wetter brachte sie auf eine Idee. Als sie am Samstagmorgen erwachte, hatte frisch gefallener Schnee die Welt in weiche Konturen gehüllt. Draußen schaufelten die Leute ihre Autos frei, Räumfahrzeuge pflügten durch die Straßen und streuten Salz. Ihr Nachbar, Mr. Diallou, war gerade dabei, seinen Wagen vom Schnee zu befreien, als der nächste Schneepflug vorbeidonnerte und ihn erneut zuschüttete. Er hob die Faust und rief dem Fahrer einen Fluch hinterher. Grace lächelte. Sie hatte einen Plan.
Sie rief in dem Papierwarenladen an und fragte nach ihm. Als ihr der Chef sagte, dass er freihatte, räumte sie ihren Wagen frei, holte ihre Ausrüstung und fuhr zu seiner Wohnung. Es war kurz vor zehn.Dann stand er in der Tür. Er trug einen dicken grauen Pullover und Jeans und befand sich offensichtlich noch im Halbschlaf; seine Lider waren schwer, und seine Sachen sahen aus, als wäre er in ihnen eingenickt.
«Wie wär’s mit einem kleinen Skiausflug?», sagte sie.
Sie bemerkte keine Spur von jenem distanzierten Zynismus, der sich sonst in seinen Zügen gespiegelt hatte; vielleicht war es ihm nicht gelungen, rechtzeitig seine Maske aufzusetzen. «Wollen Sie einen Kaffee?», fragte er.
Sie folgte ihm hinein und zog ihre Stiefel aus; stirnrunzelnd fragte sie sich, weshalb er ihren Vorschlag überhört hatte. Sie öffnete den Reißverschluss ihrer Skijacke, während er ihr einen Kaffee einschenkte. Auf dem Tisch stand seine eigene Tasse sowie ein Teller mit Krümeln, neben dem eine Zeitung lag. Geistesabwesend fuhr er sich durch die Haare; seine Locken standen in alle Richtungen ab, und er hatte tiefe Ränder unter den Augen.
«Milch? Zucker?»
Sie schüttelte den Kopf. Er wies auf den Stuhl, der seinem Platz gegenüberstand, und sie setzte sich. Sie verstand es als Willkommensgeste, als er einen Teil der Zeitung zu ihr hinüberschob. Es war der Wirtschaftsteil, und sie las ihn sorgfältig durch, während sie ihren Kaffee trank, als wollte er sie womöglich anschließend dazu befragen. Die Einkünfte der Laurentian Bank waren gestiegen. Bei einem Unfall in einer Diamantenmine in Botswana waren vier Menschen zu Tode gekommen. Tug gähnte, blätterte in seinem Teil und kommentierte den einen oder anderen Artikel mit einem Kopfschütteln.
Eine Viertelstunde verging. Von dem Hund war nirgends etwas zu sehen, und sie fragte sich, ob seine Exfrau das Tier abgeholt hatte. Und, falls ja, ob er ihr von seinem Selbstmordversuch erzählt hatte.
Erneut fuhr er sich durch die Haare, wobei er sie noch mehr zerstrubbelte. «Vor dem ersten Kaffee ist mit mir nicht viel anzufangen. Früher, als ich noch viel mit dem Auto unterwegs war, habe ichmir immer eine Thermoskanne mitgenommen. Alle haben sich immer darüber lustig gemacht, dass ich nicht in die Gänge kam, und Marcie ist schier verrückt geworden. Beim Frühstück hat sie mir von ihren Träumen erzählt und von ihren Plänen für den Tag, und eine halbe Stunde später
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