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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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auf ihn ausgeübt hatte. «Ganz und gar nicht.»
    Sie setzten ihren Weg fort, diesmal mit Grace vorneweg. Einige Zeit später begegneten sie einem Paar mittleren Alters, das mit zwei großen Hunden unterwegs war. Tug blieb stehen und unterhielt sich kurz mit ihnen über das Wetter, die Schneebedingungen und darüber, wie viel Auslauf Hunde brauchten, sehr viel freundlicher, als er je mit ihr gesprochen hatte. Mit seinem vom Wind geröteten Gesicht sah er jünger und gesünder aus, und sein beiläufiges Lächeln verlieh seinen Zügen eine andere Aura.
    Inzwischen war es Mittag, und der Naturpark wimmelte nur so von Neuankömmlingen, Kindern und Hunden. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Wie Watte rieselten dicke Flocken vom Himmel.Es wurde wärmer; schmelzender Schnee machte die Loipe rutschig, und sie zogen wortlos das Tempo an. Grace öffnete den Reißverschluss ihrer Jacke und verstaute ihre Mütze in der Tasche, und plötzlich fiel ihr auf, dass sie Tug noch nie mit Mütze gesehen hatte. Allmählich dachte sie über ihn, als würden sie sich schon seit einer Ewigkeit kennen.
    Der letzte Teil der Loipe führte bergauf, zurück zur Hütte, und sie sprinteten die kleine Anhöhe mit weit gespreizten Beinen hinauf. Hinter sich hörte sie den Stakkatorhythmus seines Atems, doch sobald sie langsamer wurde, holte er sofort auf, weshalb sie ihre letzten Reserven mobilisierte, da sie keinerlei Schwäche zeigen wollte. Als sie die Hügelkuppe erreichten, brannten ihre Muskeln. Die letzten Meter liefen sie wie bei einem Rennen, kämpften sich mit immer größeren Schritten vorwärts, bis der Schnee schließlich von Fußstapfen übersät war, ihre Skier auf zertrampeltem Eis und Kies knirschten und ihr Wettlauf notgedrungen zu Ende war – viel zu früh, wie sie fand.
    Tug lächelte sie an. «Tja», sagte er. «Da haben Sie’s mir aber ganz schön gezeigt.»
    «Ich bin früher Rennen gefahren.»
    Er zog eine Augenbraue hoch. «Ich sehe Sie förmlich vor mir. In einem Rennanzug mit einer Nummer drauf. Immer voll auf Sieg gepolt, es sei denn, jemand hat sich verletzt oder war sonst wie in Schwierigkeiten. Dann haben Sie sofort die Piste verlassen.»
    Sie war sich nicht sicher, ob das ein Witz sein sollte, und sah ihn argwöhnisch an. «Gegen meinen Ehrgeiz war kein Kraut gewachsen», erwiderte sie, und er lachte.
    Sie verstauten die Ski im Wagen und fuhren zurück. Reifenspuren zogen sich durch den graubraunen Schneematsch auf dem Highway; der Wagen roch nach Schweiß und nasser Wolle. Die Wärme der Heizung machte sie beinahe gefährlich schläfrig. Wie Tug sich fühlte, wusste sie nicht. Erschöpft oder entspannt saß er neben ihr, an die Beifahrertür gelehnt.
    Sie hielt in zweiter Reihe vor seinem Haus und wartete.
    «Netter Ausflug», sagte Tug. Er klang, als hätte ihn das überrascht. «Gut, dass Sie vorbeigekommen sind.»
    «Das freut mich. Ich hatte gehofft, dass es Ihnen gefallen würde.»
    «Unglaublich, die ganzen Leute da draußen, die einfach nur Spaß am Schnee und der Natur haben. Manchmal vergesse ich ganz, dass Menschen tatsächlich solche Dinge tun.»
    «Dass sie sich amüsieren?»
    Ungeduldig runzelte er die Stirn. «Nein, dass Menschen zusammen auf die Piste gehen, an Orten, wo auch andere Leute sind, und trotzdem Spaß dabei haben. Ich bin eigentlich schon immer allein gefahren.»
    Sie nickte. Normalerweise fuhr sie ebenfalls allein in die Berge, um die aufreibenden Stunden in der Praxis, die endlosen Gespräche, Diskussionen und Probleme zu vergessen.
    «In der Schweiz bin ich immer dorthin gefahren, wo sonst weit und breit keine Menschenseele war. Aber vielleicht hätte ich ja mehr Spaß gehabt, wenn ich an belebteren Orten Ski gelaufen wäre.»
    «Als Sie als Austauschstudent in Europa waren.»
    Sie dachte, sie hätte ganz beiläufig gesprochen, doch Tug schien es als Herausforderung zu verstehen. «Ich geb’s zu. Ich war nicht als Austauschstudent dort.»
    «Ich wollte Ihnen keine Lüge unterstellen.»
    «Es war aber eine.»
    «Okay», sagte sie.
    Eine Pause entstand. Offenbar erwartete er, dass sie ihn nach der Wahrheit fragte, doch sie schwieg. Sie dachte an die Tiere, die sie als Kind gerettet hatte, die streunenden Katzen und herrenlosen Hunde. Sie hatte gelernt, dass man ihnen nicht gut zuredete oder hinter ihnen herlief, sondern wartete, bis sie von selbst zu einem kamen.
    Als Tug die Beifahrertür öffnete, wehte kalte Luft in den Wagen.Er setzte einen Fuß auf die Straße, lächelte sie mit

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