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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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Schweigen, das sich zwischen ihnen ausbreitete, ein improvisiertes Gemeinschaftsprojekt, wie ein Stück Schnur zwischen zwei Blechdosen.
    «Das war ebenfalls gelogen. Das mit dem Spion, nicht die geografischen Angaben.» Er war kaum noch zu verstehen, und sie sah ihn genau vor sich, den Kopf auf dem Kissen, das Telefon wie ein Schoßtier neben sich.
    «Ah», sagte sie.
    Am anderen Ende klang es, als würde er den Hörer wieder näherzu sich heranziehen. Er räusperte sich, als wolle er etwas sagen, doch dann legte er unvermittelt auf – ob versehentlich oder absichtlich, wusste sie nicht. Er rief nicht noch einmal an.
    Am nächsten Tag arbeitete sie wieder. Nie war sie dankbarer gewesen für den Rhythmus der einstündigen Sitzungen, widmete sich voll und ganz ihren Klienten. Nur während ein paar freier Minuten erinnerte sie sich an seinen seltsam vertraulichen Tonfall, die Intimität seiner nächtlichen Stimme. Sie widerstand der Versuchung, sich ihrer Erinnerung zu ergeben. Sie wollte den Leuten gegenüber fair sein, die ihre Hilfe benötigten, sich voll auf sie konzentrieren, und sie sagte sich, dass sie ein andermal so viel über ihn nachdenken konnte, wie sie wollte.
    Als wolle er sie dafür belohnen, rief er abends um halb acht an. Er war wieder nüchtern, sprach übertrieben betont und leicht stockend. «Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen», sagte er. «Wegen letzter Nacht.»
    «Keine Ursache.»
    «Wirklich?», sagte er. «Ich dachte, ich wäre bei Ihnen unten durch.»
    «Ich freue mich, dass Sie anrufen.»
    «Schon merkwürdig, wie wild Sie darauf sind, einem Versager helfen zu wollen», sagte er.
    «Eigentlich halte ich Sie nicht für einen Versager», gab Grace freundlich zurück. Sie stand in ihrer Küche, ein halb gegessenes Sandwich in der Hand. «Davon abgesehen ist es vielleicht ein bisschen merkwürdig, dass Sie anscheinend glauben, Sie hätten keine Hilfe verdient.»
    «Möglich.» Er klang nicht sehr überzeugt. «Jedenfalls sollte ich besser niemanden anrufen, wenn ich zu viel getrunken habe. Tut mir leid.»
    «Ist alles in Ordnung mit Ihnen?»
    «Mein Kater macht mir eher psychologisch als körperlich zu schaffen, wenn Sie das meinen.»
    «So war’s nicht gemeint, aber okay.»
    «Haben Sie mich gefragt, ob ich ein Spion sei? Ich kann mich dunkel daran erinnern.»
    «Sie haben mir erzählt, Sie hätten viel Zeit im Ausland verbracht, und da schien mir die Frage nur logisch. Schließlich war es drei Uhr morgens. So richtig klar denken kann ich da auch nicht mehr.» Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie er sich müde die Augen rieb.
    «Ich habe eine Zeit lang für eine Hilfsorganisation gearbeitet, die versucht, die Versorgung von Flüchtlingen in Hungerregionen sicherzustellen», sagte er. «Ich war für die Logistik zuständig. Ich habe den Import von Reis organisiert, Lieferungen koordiniert und bei der Errichtung von Zeltlagern mitgeholfen.»
    «Okay», sagte sie.
    «Und jetzt koordiniere ich Papierlieferungen. Wie Sie sehen, war das ein logischer Schritt.»
    «Was ist denn passiert?»
    «Ich hatte die Nase voll. Da bin ich kein Einzelfall. Wie auch immer, ich dachte, ich schulde Ihnen eine Erklärung. Tut mir leid, dass ich Sie mitten in der Nacht angerufen habe. Das kommt nicht wieder vor.»
    «Warten Sie», sagte Grace, doch er hatte bereits aufgelegt.
    Trotz seiner Eröffnungen spürte sie, dass ihr Verhältnis einen Rückschlag erlitten hatte. Er hatte ein paar Bruchstücke aus seiner Vergangenheit offenbart, aber vor allem, um sie auf Abstand zu halten. Ihm war sehr wohl bewusst, dass Fakten nicht die Wahrheit über einen Menschen erzählten. Und Grace stand nicht so sehr neben sich, als dass sie nicht bemerkt hätte, wie wenig Fragener seinerseits gestellt hatte, und sie wünschte sich, dass er ebenfalls Interesse an ihr zeigte. So würde sie vielleicht wieder ihr eigenes Gewicht in der Welt wahrnehmen können. Wobei sie sich fragte, ob sie überhaupt einen Eindruck bei ihm hinterlassen hatte.

    Ein paar Tage später, als sie an einem eisig kalten Spätnachmittag aus ihrer Praxis kam, stand er auf dem Parkplatz, an ihren Wagen gelehnt. Seine Wangen waren rot, die Hände hatte er in den Taschen einer marineblauen Kapitänsjacke vergraben. Sie fragte sich, wie lange er schon auf sie gewartet hatte. «Sie sehen ziemlich durchgefroren aus», sagte sie lächelnd.
    Er erwiderte ihr Lächeln nicht; tatsächlich blickte er so ernst drein, dass er fast zornig erschien. «Tja, eigentlich weiß

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