In einer anderen Haut
glänzenden Augen an und sagte: «Das war in einem anderen Leben.»
Sie nickte. «So eins hatte ich auch schon mal.»
Sie war todmüde und spürte jeden einzelnen erschöpften Muskel bis tief in die Knochen, als sie an jenem Abend zu Bett ging. Sie glaubte, dass sie von ihm träumen würde, doch falls sie das tatsächlich getan hatte, waren die Bilder im tintenfarbenen Dunkel ihres Schlafs verweht, und am nächsten Morgen konnte sie sich an nichts erinnern.
Am folgenden Abend konnte sie nicht einschlafen. Ununterbrochen kreisten ihre Gedanken um all die Dinge, die sie in der kommenden Woche erwarteten – lauter Brandherde und wenig Erfreuliches. Zum Beispiel musste ihr endlich eine Lösung einfallen, wie sie mit Annie und ihren Eltern verfahren wollte. Und so war sie noch wach, oder zumindest nicht ganz eingeschlafen, als gegen drei Uhr morgens das Telefon klingelte.
«Was machen Sie gerade?» Tugs Stimme klang schleppend und undeutlich. Er war offensichtlich betrunken.
«Eigentlich wollte ich schlafen, aber irgendwie kriege ich kein Auge zu.» Das Telefon zwischen Ohr und Schulter geklemmt, setzte sie sich auf. Von draußen hörte sie entfernte Verkehrsgeräusche, und durch die Vorhänge drang das winterliche Schimmern des Schnees auf der Straße ins Zimmer.
Eine lange Pause entstand, ehe er sagte: «Dann bin ich ja froh, dass ich Sie nicht geweckt habe.» Die Pause ließ keinen Zweifel daran, dass er daran wohl kaum einen Gedanken verschwendet hatte.
«Und was machen Sie?», fragte Grace zurück.
«Ich befinde mich gerade in einem tiefen, schwarzen Loch. Und da dachte ich, am besten rufe ich Sie an.»
«Das freut mich.» Grace versuchte sich vorzustellen, wie er allein in seiner dunklen Wohnung in seinem Bett lag und sich durch die lockigen Haare fuhr. «Natürlich nicht, dass Sie sich in einem schwarzen Loch befinden. Das gefällt mir ganz und gar nicht.»
«Ach, mir schon», sagte Tug. «Alles ganz schön aufregend.»
Auf keinen Fall wollte sie ihn in seinem Sarkasmus bestärken. Stattdessen konzentrierte sie sich auf das Schweigen zwischen ihnen, die Kadenzen seines Atems. «Und was hält Sie wach?», fragte sie schließlich.
«Inzwischen sind’s die Drinks», antwortete Tug.
«Und davor?»
«Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich Sie belogen habe», sagte er; keine Antwort auf ihre Frage, sondern ein neuer Gesprächsfaden. «Und Sie haben es auch noch bemerkt. Daran liegt es wahrscheinlich auch, dass andere Menschen nicht gern Zeit mit Ihnen verbringen, Grace. Weil Sie merken, wenn andere lügen, und es ihnen auch noch auf den Kopf zu sagen.»
Das versetzte ihr einen Stich. «Andere Menschen verbringen nicht gern Zeit mit mir? Wie kommen Sie denn darauf?»
«Ihr Sozialleben scheint mir nicht besonders ausgeprägt zu sein. Und Sie verwenden eine Menge Energie darauf, sich mit Leuten wie mir anzufreunden, warum auch immer. Außerdem sind Sie geschieden.»
«Sie doch auch.»
«Sehen Sie?», gab er zurück. «Genau das meinte ich.»
Tug lag falsch, dachte Grace; sie hatte durchaus Freunde. Andererseitsmusste sie zugeben, dass er auch nicht ganz unrecht hatte. Was Männer anging, war sie neugierig genug, um sich mit ihnen einzulassen, doch entweder zogen sie sich über kurz oder lang zurück, als wäre sie ihnen zu anstrengend, oder sie breiteten ihre Lebensgeschichten vor ihr aus, erzählten ihr alles – «Du kannst echt gut zuhören, Grace» – und suchten sich eine andere Frau. In letzter Zeit hatte sie sich kaum noch mit jemandem verabredet. Während ihre Freundinnen älter wurden, sich vorrangig ihren Ehen und Kindern widmeten, fühlte sie sich mehr und mehr isoliert. Sie kam sich vor, als wäre sie auf ihrer privaten Insel gestrandet, und manchmal vergingen Wochen, ohne dass sich in ihrem Leben etwas ereignete.
Aber Tug hatte ihre Neugier geweckt. «Und inwiefern haben Sie mich belogen?»
Er senkte die Stimme und sprach so leise weiter, dass sie ihn nur schwer verstehen konnte. «Ich war nie als Austauschstudent in der Schweiz. Und in dem Schreibwarenladen habe ich auch nicht immer gearbeitet. Eine Zeit lang hatte ich mich in Genf niedergelassen, dann war ich drüben in Mittelamerika und Afrika, und schließlich bin ich wieder hier gelandet. Ich war schon immer ein unruhiger Charakter, und vielleicht ist das mein Problem – dass ich wieder nach Hause zurückgekehrt bin.»
«Sind Sie ein Spion?», fragte Grace.
«Früher. Jetzt nicht mehr.»
Abermals lauschte sie dem
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