Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
Vom Netzwerk:
Phantasie, eine Weigerung, sich den komplexen, oft undurchsichtigen Erfordernissen zu stellen, die jede echte Beziehung definieren. All das versuchte Grace ihrem Klienten zu erklären, während er eine 45-Kilo-Hündin auf seinem Schoß wiegte. Morris hörte ihr zu, nickte und trocknete seine Wangen. «Danke sehr», sagte er schließlich und verließ ihre Praxis. Er kam nie wieder.

    Als sie John Tugwell wiedersah, kam ihr unwillkürlich Morris in den Sinn – weil ihr bewusst war, dass es keinen vernünftigen Grund für ihr übersteigertes Interesse an ihm gab, dass er tausend Probleme hatte und sie höchstwahrscheinlich mit hineinziehen würde. Doch bei seinem Anblick durchströmte sie ein derartiges Glücksgefühl, dass ihr der Atem stockte. Und obwohl sie all ihren gesunden Menschenverstand zusammenzunehmen versuchte, konnte nichts dieses Glücksgefühl zunichtemachen und sie auf den Boden der Tatsachen zurückholen.
    Bis dahin hatte sie sich eingeredet, dass sie nur nach einem Geburtstagsgeschenk für ihre Freundin Azra suchte. Dass ihr Abstecher in dieses Schreibwarengeschäft in Westmount nichts mit dem Vorfall auf dem Berg zu tun hatte. Dann sah sie ihn. Er stand am anderen Ende des Ladens hinter einem Tresen und zeigte einem Pärchen einen Katalog mit Hochzeitseinladungen. Als sie hereinkam, warf er ihr einen Blick zu, doch keiner von ihnen lächelte oder nickte auch nur. Mit heftig klopfendem Herzen wandte Grace sichab und nahm ein paar in Leinen gebundene Tagebücher in Augenschein. Im Hintergrund hörte sie seine Stimme, während er seinen Kunden geduldig Papiersorten und Preise nannte.
    Eine Verkäuferin mit platinblondem Haar trat zu ihr und fragte:
«Est-ce que je peux vous aider?»
Grace schüttelte den Kopf. Sie hatte die Kappen von bestimmt hundert Federhaltern abgeschraubt und jede einzelne Glückwunschkarte betrachtet, ehe sie sich schließlich für eine entschied und ein Tagebuch als Geschenk für ihre Freundin kaufte. Er wartete noch immer, dass sich das Hochzeitspaar endlich einigte, doch die Frau schien sich nicht entscheiden zu können.
    «Ich glaube, ich würde lieber noch mal mit meiner Mutter reden», sagte sie.
    «Sie ist mit deiner Wahl bestimmt einverstanden», wandte ihr Verlobter ein.
    «Aber meine Mutter hilft mir sonst auch immer», erwiderte sie.
    Die blonde Frau, die Grace’ Einkäufe in die Kasse tippte, grinste süffisant. «Ich gebe den beiden ein Jahr», murmelte sie.
    Grace nickte mechanisch und nahm die Einkaufstüte entgegen. Gerade wollte sie den Laden verlassen, als sich das junge Paar bei Tug bedankte und ging.
    «Ich mache mich überhaupt nicht von meiner Mutter abhängig», sagte die Frau. «Ich vertraue einfach auf ihr Urteil. Ist doch gut, eine zweite Meinung einzuholen.»
    «Wie wär’s mal mit meiner?», erwiderte ihr Verlobter.
    Tug lächelte ironisch in sich hinein, als Grace, um eine möglichst beiläufige Miene bedacht, auf ihn zuging. Sie legte ihre Plastiktüte auf den Tresen und sagte: «Könnten Sie mir ein paar Einladungskarten zeigen?»
    «Heiraten Sie?»
    «Nein.»
    «Um was für einen Anlass geht es denn?»
    «Um keinen speziellen.» Sie sah kurz über die Schulter zu der Verkäuferin hinüber. «Ich wollte mich einfach nur mal erkundigen.»
    «Hypothetische Einladungen also», sagte er und schlug eins der vor ihm liegenden Alben auf.
    Als sie sich zu ihm beugte, spürte sie die Wärme, die von ihm ausging. «Ich habe mich nur gefragt, wie es Ihnen geht», sagte sie.
    «Alles okay.»
    «Wo sind denn Ihre Krücken?»
    «Ich bin längst wieder auf dem Damm.» Er bemerkte, wie sie einen Blick auf seinen Hals warf – die leichte Rötung konnte man leicht mit einem Ausschlag verwechseln – und errötete.
    «Und sonst?», sagte sie.
    «Wunderbar», sagte er. «Alles bestens.»
    «Sie müssen mich nicht so abblitzen lassen», sagte sie. «Ich werfe Ihnen nichts vor und will auch nichts von Ihnen. Ich habe mir bloß Sorgen gemacht.»
    «Warum?» Er klang eher erstaunt als verärgert. «Ich lerne eher selten Menschen kennen, die sich so sehr für mein Wohlergehen engagieren.»
    Grace hielt seinem Blick stand. «Und ich lerne selten Menschen unter solchen Umständen kennen wie Sie.»
    «Es tut mir leid, dass ich Sie in mein Leben hineingezogen habe», erwiderte er. «Das hatte ich nicht geplant.»
    «Keine Ursache», sagte sie.
    Sie nahm ein teures Büttenpapier-Muster aus dem Album und notierte mit einem der schicken Federhalter ihren Namen, Adresse und

Weitere Kostenlose Bücher