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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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an ihrer Schulter geruht hatte, ins Gesicht.
    «Du liebe Güte!», stammelte sie. «Was ist denn jetzt los?»
    «Was ist passiert? Habe ich dich
geschlagen?»
Er war noch völlig verschlafen und sichtlich verwirrt. «Alles okay mit dir? O Gott, verzeih mir.» Sanft strich er über die Wange. «Du bist ja ganz rot.»
    «Ach was. Das ist nur wegen deinem Gesicht.»
    «Meinem Gesicht?»
    «Deinem Bart. Den Stoppeln, meine ich.»
    «Oh, Grace.» Er küsste ihre wunde, geschundene Wange. «Es tut mir so leid.»
    «Schon gut», sagte sie. «Ich bin froh, dass du ein wenig schlafen konntest.»
    «Ich war so unendlich müde.» Abermals küsste er sie, diesmal auf die Lippen, und kurz darauf landeten sie wieder im Bett, diesmal ganz ohne Eile und Verlegenheit, so wie sie es sich wünschte. Und als sie sich geliebt hatten, war sie diejenige, die einschlief.

    Während der nächsten zwei Wochen kam er, meist spätabends, entweder zu ihr oder lud sie in seine Wohnung ein. Nur selten gingen sie essen, tranken stattdessen Wein und redeten, ehe sie miteinander ins Bett gingen. Morgens saßen sie sich schweigend beim Kaffee gegenüber. Eigentlich wäre sie davon ausgegangen, dass sie nur eine marginale Rolle in seinem Leben spielte, doch wenn sie mitten in der Nacht aufwachte, lag er eng an sie geschmiegt neben ihr, einBein über ihren Hüften, den Arm um ihre Schultern gelegt, und sie spürte seine Wärme an ihrem Rücken; oder er hielt ihre Hand im Schlaf, zog sie an sich, und wenn ihr Kopf an seiner Brust ruhte, hörte sie ihn leise seufzen.
    Grace erlebte jene Tage wie in einem Nebel, eingehüllt in ihre geheimsten Gefühle. Ihren Patienten gegenüber zeigte sie sich freundlich und warmherzig, gewissermaßen als Wiedergutmachung dafür, dass ihre Gedanken immer wieder abschweiften, aber sie schienen bestenfalls dankbar zu sein, wenn sie sich voller Mitgefühl wieder in die Unterhaltung einklinkte und sich den Feinheiten ihres Problems mit unerschöpflicher Hingabe und großem Einfühlungsvermögen widmete. Die Einzige, die eine Veränderung wahrzunehmen schien, war Annie. Seit dem Abend, als sie in Grace’ Wohnung aufgetaucht war, begegnete sie ihr mit einer Selbstverständlichkeit, in der gleichermaßen Vertrauen wie Herablassung lagen. Es war die Ungezwungenheit eines Mädchens, das bezahlte Hilfe gewohnt war, jene gönnerhafte Zuneigung, die eine junge Frau aus bestem Haus ihrer Haushälterin entgegenbrachte. Sie war jetzt offener, aber auch respektloser, und ihr war bewusst, dass sie damit durchkam, was Grace ein wenig Sorgen bereitete.
    Als sie versuchte, Annie zu entlocken, wie sie zu der Entscheidung stand, die sie getroffen hatte, fragte das Mädchen: «Sind Sie schwanger?»
    «Ich? Nein», erwiderte Grace verblüfft. «Wie kommst du denn darauf?»
    «Sie sehen anders aus als sonst.» Annie fläzte sich in den Sessel – selbst ihre Sitzhaltung hatte sich drastisch verändert – und ließ die Beine über die Armlehne baumeln. «Als hätten sie zugenommen, aber es steht Ihnen gut.»
    «Und als Allererstes denkst du, ich wäre schwanger», sagte Grace, «statt daran, dass es mir einfach nur gut geht. Wieso ist das wohl so?»
    «O Gott», sagte Annie. «Das war doch bloß ein Kompliment.»
    «Im ersten Moment hörte sich das aber nicht so an.»
    «Oder vielleicht sind Sie ja
verliebt.»
Sie klang hämisch, wie ein zwölfjähriger Junge.
    «Treib’s nicht zu weit, Annie», warnte Grace.
    Das ließ sie aufmerken. Sie nahm die Beine von der Armlehne und setzte sich aufrecht hin. «Tut mir leid.»
    «Du musst dich nicht entschuldigen.»
    «Stimmt. Therapie bedeutet ja, dass man nie etwas bereuen muss.»
    «Das kann ich dir nicht versprechen. Aber eigentlich geht es eher darum, dass du herausfindest,
warum
dir bestimmte Dinge im Nachhinein leidtun.»
    «Ich weiß», sagte Annie. «Genau das macht mich ja so müde.»

    Die Abende verbrachte sie weiter mit Tug, und bald darauf gingen sie auch zusammen zum Abendessen aus oder ins Kino. Sie kauften ihm neue Ski und gingen langlaufen, und an faulen Sonntagnachmittagen lagen sie zusammen im Bett und lasen die Zeitung. Sie vergaß die seltsamen Umstände, unter denen sie sich kennengelernt hatten, ebenso wie die Tatsache, dass lauter unbeantwortete Fragen zwischen ihnen standen, die zum Ende ihrer Beziehung führen konnten. Alles war in der Schwebe, und es fühlte sich an, als könnte es ewig so weitergehen.

    Eines Morgens ertönte ein scharfes Klopfen an ihrer Sprechzimmertür,

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