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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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das an, wenn man immer mehr in die Breite ging, allmählich aus allen Nähten platzte? Jeden Tag legte sie mehr zu, aß literweise Eiscreme, tütenweise Salzcracker und sogar ganze T-Bone-Steaks, die Anne, die normalerweise keinen Fuß in eine Metzgerei setzte, für sie mit nach Hause brachte.
    Auch ihr Freund hatte ordentlich zugelegt. Mittlerweile verbrachte er mehrere Stunden mit Liegestützen und Gewichtheben – auf der Straße hatte er einen Satz Hanteln gefunden – in einer Ecke des Wohnzimmers, die er für sich okkupiert hatte: ein winziges männliches Reich, abgesteckt mit Fitness-Magazinen, den Hanteln und einem Paar müffelnder Sportschuhe. Er arbeitete als Zimmerer auf einer Baustelle in Queens, und sowohl die Arbeit als auch das Training sorgten dafür, dass er immer athletischer wurde. An seinem Nacken traten Muskelstränge hervor, die Schultern waren breiter,Ober- und Unterarme deutlich straffer. Es war, als glaubte er, Muskeln würden zur Vaterschaft gehören.
    Wenigstens ging er einer Arbeit nach, und Anne hoffte, dass er ein wenig Geld beiseitelegte. Sie wusste nicht, was aus den beiden werden würde, sobald das Baby auf der Welt war und sie eine eigene Bleibe gefunden hatten. Zumindest hoffte sie darauf, dass sie sich etwas suchten. Doch als sie versuchte, mit Hilary zu sprechen, war es vorbei mit ihrer Gelassenheit; sie begann zu weinen, und ihr sonst so blasser, milchiger Teint war rot und verquollen. «Wir kümmern uns drum», heulte sie, weniger eine konkrete Zusicherung als ein halbherziges Versprechen an sich selbst und ihr ungeborenes Kind. Prompt bekam Anne ein schlechtes Gewissen und beschloss, nicht weiterzubohren. Wer will schon eine schwangere Frau zum Weinen bringen?
    Eines Tages fand sie Alan allein vor, als sie nach Hause kam. Er stand in seiner Ecke und stemmte seine Hanteln. «Wo ist Hilary?», fragte sie.
    Sein Gesicht war verzerrt vor Anstrengung; er gab ein Grunzen von sich, ohne sie weiter zu beachten.
    Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie je allein gewesen waren. Hilary war immer da, ihr Körper gewissermaßen als Puffer zwischen ihnen. Alan bückte sich und griff nach einer schwereren Hantel. Die Hanteln waren sein Ein und Alles und schimmerten im Licht. Sein Bizeps zog sich zusammen und entspannte sich wieder, während er zum Fenster sah und mit seinem Training fortfuhr. Sie trat einen Schritt näher – sein Schweißgeruch stieg ihr unangenehm in die Nase – und versuchte, ihm in die Augen zu sehen, doch er hielt den Blick stur auf seine Muskeln gerichtet.
    «Hör zu», sagte sie. «Dir ist doch wohl klar, dass ihr hier nicht ewig bleiben könnt. Ich hoffe, du hast ein bisschen Geld gespart. Sobald das Baby da ist, musst du für die beiden sorgen. Du musst erwachsen werden.»
    Kaum waren die Worte ausgesprochen, kam sie sich lächerlichvor. Was wusste sie schon davon, was es hieß, für eine Familie zu sorgen? Einst war sie selbst in Hilarys Lage gewesen und hatte sich für die gegenteilige Lösung entschieden. Ihre Eltern hatte sie ebenfalls zurückgelassen, sich von jeder Art von Familie so weit wie nur eben möglich entfernt. Während sie daran zurückdachte, konnte sie sich kaum erinnern, welche Überlegungen sie zu ihren Entscheidungen geführt hatten, ja, ob sie überhaupt einen klaren Gedanken gefasst hatte. Nichts als blanken Hass hatte sie zu jener Zeit empfunden: Ihr Vater war ein Scheusal, ihre Mutter eine Jammergestalt, und beide waren so mit sich selbst beschäftigt, dass sie keine Ahnung hatten, was in ihr vorging. Alles hatte sie allein, ohne ihre Eltern bewerkstelligt. Der einzige Mensch, der sich um sie gekümmert hatte, war ihre Therapeutin gewesen, und das auch nur, weil sie dafür bezahlt worden war. Der Gedanke daran ließ neue Wut in ihr aufsteigen, und diese Wut richtete sich auf Alan, der, statt ihr zu antworten, seine Hantel weiter von einer Hand in die andere gleiten ließ. Sie sah, wie sich seine Lippen bewegten, während er die Wiederholungen zählte.
    «Hast du mal überlegt, wo ihr unterkommen wollt?»
    Mit einem genervten Stöhnen ließ er die Hantel sinken. Er trug ein schmutziges, ärmelloses T-Shirt; Schweiß glänzte auf seiner weißen Haut. Sein Gesicht war knallrot, als er sich aufrichtete. «Warum hältst du nicht einfach mal die Fresse?», sagte er.
    Annes Gesicht brannte, als hätte er ihr eine Ohrfeige verpasst. «Was?»
    «Du führst dich hier auf, als hättest du die Weisheit mit Löffeln gefressen, aber du blickst null

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