In einer anderen Haut
und noch bevor sie «herein» rufen konnte, traten ein Mann und eine Frau ein. Sie konnte das Paar nicht einordnen, obwohl sie wusste, dass sie den beiden schon einmal begegnet war, und während sie sie fragend anstarrte, ohne sich zu erheben, bemerkte sie, dass ihre Besucher außer sich vor Wut zu sein schienen.
«Wir müssen mit Ihnen sprechen», sagte der Mann.
«Setzen Sie sich doch bitte», sagte Grace, während ihr alle möglichen unwahrscheinlichen Szenarios durch den Kopf schossen, ehe ihr aufging, dass es sich um Annies Eltern handelte.
Sie nahmen auf dem Sofa Platz, setzten sich dabei aber so weit wie möglich auseinander. Annies Mutter trug ein dunkelblaues Kostüm, hochhackige Stiefel und hatte ihr blondes Haar zu einem Knoten im Nacken frisiert; zornig tippte sie mit einem Fuß auf den Boden. Ihr Mann trug einen Anzug in derselben Farbe. Sie waren erstklassig aufeinander abgestimmt, teuer und perfekt gestylt.
«Was kann ich für Sie tun?», fragte Grace. An die Vornamen von Annies Eltern konnte sie sich immer noch nicht erinnern.
«Was Sie für uns tun können? Was haben Sie
getan?»
, fuhr Annies Mutter sie an. Sie weinte zwar nicht, aber ihre Augen waren gerötet, und einen Moment lang setzte Grace’ Herz aus.
«Ich nehme an, es geht um Annie», sagte sie.
«Es geht um das Ende Ihrer Karriere», blaffte der Mann.
Er war es offenbar gewohnt, Drohungen auszustoßen, und Grace erinnerte sich an etwas, das Annie einmal zu ihr gesagt hatte: «Meine Eltern setzen immer ihre Interessen durch, und sie kapieren nicht, warum ich nicht genauso bin.»
«Wir wissen Bescheid», sagte er. «Darüber, dass Sie Annie ins Krankenhaus gefahren haben. Dass Sie unsere Tochter dazu ermutigt haben, eine Abtreibung vornehmen zu lassen.»
«Was?», platzte Grace heraus. «Das stimmt doch nicht.»
«Annie hat uns alles erzählt», sagte seine Frau. «Sie haben ihrgeraten, uns nicht einzuweihen, weil das alles nur komplizieren würde. Sie sind ein Ungeheuer. Annie ist unsere Tochter.»
«Ihre Tochter hat große Probleme», erwiderte Grace. «Möglicherweise größere, als wir uns vorstellen können.»
«Leuten wie Ihnen sollte verboten werden, in anderer Menschen Leben herumzupfuschen!», erklärte der Mann.
«Nur um von vornherein Missverständnisse auszuräumen», sagte Grace. «Geht es Ihnen um die Abtreibung selbst oder darum, dass Annie Ihnen den Eingriff verheimlicht hat?»
«Sie sind also über alles im Bilde», sagte Annies Vater. «Ich fasse es nicht. Ich werde dafür sorgen, dass man Ihnen die Zulassung entzieht. Ich werde Sie ruinieren.»
«Tun Sie, was Sie nicht lassen können», gab Grace ruhig zurück. «Stattdessen könnten wir uns aber auch ernsthaft über Ihre Tochter unterhalten.»
Er starrte sie finster an und erhob sich, doch Grace sah genau, dass seine Frau bleiben wollte. Sie strich über seinen Arm und blickte mit bittendem Lächeln zu ihm auf. Er setzte sich wieder. «Dann klären Sie mich auf», sagte er.
Grace sah ihn einen Augenblick schweigend an und wählte ihre Worte mit Bedacht. «Als Annie zum ersten Mal zu mir kam», sagte sie, «glaubte ich, dass ihr selbstzerstörerisches Verhalten auf den Druck zurückzuführen war, den sie auf sich selbst ausübte.» Sie hielt inne. «Und ich bin nach wie vor der Meinung, dass ich damit richtiglag.»
Annies Mutter strich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. Trotz des maßgeschneiderten Kostüms sah sie Annie sehr ähnlich: hübsch, blond, verletzlich. Annies Vater saß stoisch aufrecht und erlaubte ihr, seine Hand zu halten, während er mit verbissener Miene darauf wartete, das sie fortfuhr.
«Meines Erachtens ist Annie so sehr in ihren Mustern gefangen», sagte Grace, «dass sie nicht mehr aus ihnen herausfindet. Sie versucht alle Erwachsenen um sich herum zu manipulieren, um sich weiter Schmerzen zufügen und allen – inklusive sich selbst – beweisenzu können, wie wertlos sie ist. Ich muss wohl kaum hinzufügen, wie gefährlich das ist.»
Annies Vater war puterrot, gab aber keinen Ton von sich. Während sich das Schweigen weiter und weiter im Raum ausbreitete, wartete Grace auf die Explosion, die unweigerlich folgen musste. Schließlich gab Annies Mutter ein leises Schluchzen von sich.
«Als ich nach Hause gekommen bin, lag Annie im Bett», begann sie. «Sie sagte, sie hätte die Grippe. Ich habe nicht das Geringste geahnt. Und in der Schule war sie ja auch, wussten Sie das? Sie hat die Mathearbeit mitgeschrieben, und hinterher ist
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