In einer anderen Haut
sie ins Krankenhaus gefahren. Sie hatte einen Termin um vier. Sie ist so verantwortungsbewusst. So organisiert. Sie hat alles so arrangiert, dass wir nichts mitbekommen konnten.»
Grace schwieg und wartete.
«Wir hätten nie etwas davon erfahren», fuhr Annies Mutter fort. Tränen liefen ihr über die Wangen.
«Und wie haben Sie es herausgefunden?», fragte Grace.
«Das war nach Annies gestrigem Termin bei Ihnen», sagte der Vater.
«Wir hatten gestern keinen Termin.»
«Doch, natürlich. Wie üblich. Vor sechs Monaten haben Sie doch selbst zwei Sitzungen pro Woche vorgeschlagen.»
Grace seufzte. «Und was hat sie gesagt?»
«Sie war letzte Nacht völlig außer sich und hatte Weinkrämpfe. Sie hat gesagt, sie wolle nicht mehr zu Ihnen gehen. Als wir sie gefragt haben, warum, hat sie uns alles erzählt. Was Sie ihr geraten haben und wie sehr sie mit sich gekämpft hat.»
«Sie hat geweint wie ein kleines Kind mit einem Aua am Knie», ergänzte Annies Mutter. «Sie hat in meinen Armen geschluchzt.»
Ein Aua?
, dachte Grace. «Ich weiß nicht, was Annie mittwochnachmittags macht», sagte Grace, «aber bei mir ist sie jedenfalls nicht gewesen. Außerdem können Sie meinen Rechnungen entnehmen, dass wir nur eine Sitzung pro Woche haben.»
«Wir haben keine Zeit, uns Ihre Rechnungen genauer anzusehen», erwiderte Annies Vater. «Wo zum Teufel ist sie dann gewesen?»
Annies Mutter befand sich am Rand der Hysterie. Sie schluchzte so heftig, dass sie kein Wort mehr hervorbrachte, sondern nur noch entschuldigend den Kopf schütteln konnte. Ihr Mann reichte ihr ein Papiertaschentuch aus der Schachtel, die auf Grace’ Schreibtisch stand, machte aber keine Anstalten, sie zu trösten.
«Wir haben im Krankenhaus angerufen», sagte er, «aber die berufen sich auf ihre Schweigepflicht. Sie müssen uns sagen, was Sie wissen.»
Wieder schwieg Grace einen Moment, während sie sich in Erinnerung rief, wie wenig Vertrauen diese Leute zu ihr hatten. «Die Gespräche zwischen Annie und mir sind vertraulich», sagte sie schließlich.
In seinem Blick stand nackte Wut, als er sich vorbeugte; das teure weiße Hemd wölbte sich vor seiner Brust. «Wer hat ihr das Kind gemacht?»
«Ich weiß es nicht.»
«Etwa dieser Oliver? Ich bringe ihn um!»
«Ich weiß es wirklich nicht», sagte Grace. «Ich weiß nur, dass Annie all unsere Hilfe benötigt, um ihre Krise durchzustehen.»
«Ach ja? Und Sie helfen ihr, indem Sie ihr ohne Wissen ihrer Eltern zu einer Abtreibung raten?»
«Das habe ich nicht getan.»
«Ich wüsste nicht, warum wir Ihnen glauben sollten.» Er erhob sich wieder. «Sie und Annie, sie lügen beide. Kein Wunder, dass Sie sich gut mit ihr verstehen. Und deshalb redet sie wohl auch lieber mit Ihnen statt mit uns. Sie stützen sich gegenseitig mit ihren Lügen!»
«Einen Moment. Setzen Sie sich doch bitte wieder. Lassen Sie uns in Ruhe miteinander reden.»
Doch sich zu setzen wäre für ihn einer Niederlage gleichgekommen.«Das ist alles Ihre Schuld», schnauzte er sie an. «Sie sollten ihr helfen. Das war Ihr Job, und Sie sind verantwortlich!» Er sprach langsam und präzise. Er hatte sie zum Sündenbock auserkoren, an dem er seine Wut auslassen konnte. «Dafür werden wir Sie zur Rechenschaft ziehen. Sie werden Ihre Zulassung verlieren. Sie werden keine weiteren Familien zerstören!»
Grace stand auf und sah ihm in die Augen. «Ich verstehe, wie schrecklich all das für Sie sein muss», sagte sie. «Sehr gut sogar.»
«Was Sie verstehen, ist mir scheißegal.»
«Annie ist mir wichtig», sagte Grace. «Sie können auf meine Hilfe zählen.»
«Wenn ich mit Ihnen fertig bin», sagte Annies Vater, «werden Sie Hilfe brauchen, verlassen Sie sich drauf. Am besten suchen Sie sich einen sehr guten Anwalt.»
Er öffnete die Tür und marschierte aus ihrem Sprechzimmer. Seine Frau folgte ihm, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, sichtlich dankbar, dass er jemanden gefunden hatte, dem man die Schuld in die Schuhe schieben konnte.
5
New York, 2002
Das Kind existierte für ihre Dreiergemeinschaft in vielen Formen – als Zankapfel, Verhandlungsbasis, Diskussionsgegenstand, als ein Andenken an den Sex, als heikle Angelegenheit, als wunder Punkt, als wunderbares Ereignis –, ehe es überhaupt zur Welt gekommen war.
Hilary schien von heiterer Gelassenheit erfüllt zu sein, während das Baby in ihr heranwuchs; nichts konnte sie erschüttern. Zuweilen konnte Anne den Blick nicht mehr von ihr abwenden. Wie fühlte sich
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