In einer anderen Haut
Fernsehen ansah, und plötzlich ergriff ihn aufrichtiges Mitgefühl. Grace hasste Fernsehen und bekam Kopfschmerzen davon, wenn sie müde war. Mit leerem Blick und halb offenem Mund starrte sie an die Zimmerdecke; die Hände ruhten neben ihrem Körper. Als er noch einmal klopfte, erwachten ihre Augen zum Leben. Sie wirkte so glücklich, dass er errötete. Er hätte eher wiederkommen sollen, dachte er.
Er zog einen Stuhl heran und setzte sich zu ihr ans Bett. «Wie geht es dir?»
«Großartig.» Sie lächelte trotz ihrer offensichtlichen Schmerzen. Ihr Blick war nicht mehr glasig, doch wirkte sie immer noch sehrblass, und unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Jemand hatte ihr Haar zu einem Zopf geflochten. «Nett, dass du dich um meine Wohnung gekümmert hast. Danke.»
«Keine Ursache.» Er hatte den Schlüssel mitgebracht und legte ihn auf den Nachttisch, auf ein Bild, das offenbar ihre Tochter gemalt hatte.
Die Frau mittleren Alters, die in dem anderen Bett lag, stöhnte laut, anscheinend mitgerissen von den Geschehnissen auf dem Bildschirm. Mitch wandte sich um. Die Seifenoper spielte ebenfalls in einem Krankenhaus; eine junge, stark geschminkte Frau hing an einer Herz-Lungen-Maschine, während ein gut aussehender Arzt konsterniert auf sie herabsah.
«Mais non, mais non»
, murmelte die andere Frau, auch wenn Mitch nicht ganz klar war, wogegen sie protestierte. Dann ertönte ein lauter Jingle, mit dem irgendein Putzmittel beworben wurde, und Grace verzog das Gesicht. Vom Korridor drangen weitere Geräusche zu ihnen herein: Ärzte, die auf andere Stationen gerufen wurden, das fröhliche Geschnatter von Krankenschwestern, das Summen und Piepen entfernter Maschinen. Er war so daran gewöhnt, in einer Klinik zu arbeiten, dass er nur selten darüber nachdachte, wie die Patienten inmitten dieser Geräuschkulisse empfinden mussten. Plötzlich wünschte er, Grace doch etwas mitgebracht zu haben, eine Zeitschrift oder ein Buch. «Kann ich sonst irgendwas für dich tun?»
«Ich weiß nicht. Erzähl mir einfach, was in deinem Leben passiert. Wir haben uns ja schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.»
Er zuckte mit den Schultern, wusste nicht, wo er anfangen sollte.
«Ich habe gehört, du bist jetzt mit einer Anwältin zusammen.»
Er hielt einen Moment inne. «Wo hast du das denn her?»
Grace’ Augen funkelten. «Du weißt doch, wie klein die Stadt ist. Jemand hat sie auf irgendeiner Party kennengelernt.» Natürlich hatte sie recht – es
war
eine kleine Stadt –, und es spielte ohnehin keine große Rolle. Ein vages Gefühl des Scheiterns beschlich ihn. «Es hat nicht funktioniert.»
Grace griff nach seiner Hand und drückte sie. «Das tut mir leid.»
Sie musterte ihn eindringlich, wartete, ob er noch etwas hinzufügen wollte, ganz anders als Martine, die einfach das Thema gewechselt hätte; es war so typisch für sie, dass er unwillkürlich lächeln musste. Auch fiel ihm auf, dass Grace immer noch sehr attraktiv war. Ihre Figur ließ darauf schließen, dass sie immer noch joggte und Ski fuhr. Einen Augenblick lang musste er daran denken, wie sie damals, in der Anfangszeit ihrer Ehe, die Beine unter ihm gespreizt und fordernd geflüstert hatte: «Komm zu mir.» Sie hatte es nie anders formuliert, und wenn er ihrem Wunsch dann nachkam, wisperte sie seinen Namen, als wäre ihr gerade endgültig aufgegangen, mit wem sie es zu tun hatte, nachdem ihr seine Identität eher ein Rätsel gewesen war. Das war die Grace, an die er sich stets erinnerte: eine junge, hoch talentierte Frau von so scharfem Intellekt, dass er erst Jahre später begriffen hatte, wie verletzlich sie war. Nun lächelte sie ihn nachdenklich an, als wüsste sie nur allzu genau, was in ihm vorging.
«Schon okay», sagte er schließlich. «Und bei dir?»
«Ach, nichts Besonderes. Ich habe so viel mit meinem Job und Sarah zu tun, da bleibt mir gar keine Zeit für andere Dinge.»
«Hast du immer noch die Praxis in Côte-des-Neiges?»
Sie schüttelte den Kopf und zog eine Grimasse, als würde ihr das Schmerzen bereiten. «Ich arbeite nicht mehr als Therapeutin. Ich bin jetzt Lehrerin an einer Schule auf West Island.»
«Was? Im Ernst?» Die Eröffnung traf ihn wie ein Schock. Viele Therapeuten brannten irgendwann aus, weil sie es nicht mehr ertrugen, sich jeden Tag aufs Neue mit den nie endenden Problemen anderer Menschen zu beschäftigen, doch Grace hatte ihren Beruf immer mit Leib und Seele ausgeübt; ihr Interesse an anderen Menschen war
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