In einer anderen Haut
echten Nachdruck oder gar Aggression, ließ sie ihn wissen, dass er ihr keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte und es nun endlich an der Zeit war, sie zu beachten. Und genau das tat er dann auch.
Ein Jahr später hatten sie geheiratet. Sie waren beide Anfang zwanzig, und die einzigen Ehepaare, die sie kannten, waren so alt wie ihre Eltern. Alle um sie herum fanden ihren Entschluss süß – oder verantwortungslos. «Ihr seid geschieden, bevor du fünfunddreißig bist», murmelte seine Mutter düster, als er ihr von seinen Plänen erzählte. Und sie behielt, wie so oft, recht. Dennoch hatte er Grace geliebt. Er fragte sich, ob seine Mutter immer noch davon überzeugt gewesen war, dass sie sich trennen würden, als sie ihr die Teekanne geschenkt hatte. Sie war durch und durch Materialistin gewesen, und er erinnerte sich noch genau, wie sie während ihrer letzten Lebenstage über ihre Lieblingsdecke und ihre Strickjacke gestrichen hatte, lange nachdem sie seinen Namen vergessen hatte.
Er hatte es sich nie eingestehen wollen, doch er trauerte der Grace hinterher, die er verloren hatte, der Studentin, die ihn so sehr bewundert hatte. Als sie ihren eigenen Abschluss gemacht hatte und sie Kollegen wurden, verschoben sich die tektonischen Platten ihrer Beziehung. Sie schliefen nicht mehr miteinander. Sie wurdenFreunde. Was all das über ihn aussagte, sein sexuelles Desinteresse, sein Bedürfnis zu dominieren, war so überaus unschmeichelhaft – und so unaussprechlich, unabänderlich wahr –, dass er sich nicht überwinden konnte, auch nur ansatzweise darüber nachzudenken.
Grace war perfekt für ihn. Sie war treu, fürsorglich; sie war loyal und klug; sie verstand sowohl ihn als auch seine Arbeit. Und daher war ihre Scheidung eine Zeit lang für ihn die große Niederlage seines Lebens – bis er in noch ganz anderen Dingen versagte.
Die Wahrheit über seine Ehe ging ihm auf, als er beinahe mit einer Patientin schlief. Marisa war eine vierzigjährige, unglücklich verheiratete Bankerin, deren Ehemann an Bauchspeicheldrüsenkrebs litt; sie war vollbusig, wirkte leicht verlebt, hatte ihr braunes Haar zu einem strähnigen Wirrwarr aufgetürmt und trug ein unangenehm aufdringliches Parfüm. Mit ihrem verschmierten Lippenstift wirkte sie stets, als sei sie kurz zuvor flachgelegt worden, auch wenn er aus ihren Gesprächen wusste, dass dem nicht der Fall war. Einsam und traurig, sehnte sie sich nach jemandem, der ihre Hand hielt; sie liebte es, mit Mitch zu reden, und bald entwickelte sich eine unausgesprochene Spannung zwischen ihnen. Er ließ sich darauf ein, und schließlich fieberte er den Sitzungen mit ihr regelrecht entgegen, jenen Momenten, die zuweilen zum einzigen Höhepunkt der Woche für ihn wurden.
Grace und er schliefen noch im selben Bett, hatten dabei aber ein perfektes Timing, sich aus dem Weg zu gehen, da sie früh schlafen ging und er meist bis nach Mitternacht aufblieb. Dann starb Marisas Mann, und am Tag nach der Beerdigung gestand sie ihm völlig verweint, dass sie trotz ihrer Trauer eine überwältigende Erleichterung verspürte. Mitch tätschelte ihre Hand; ihm war klar, warum sie ihre Gefühle ihm und nicht einem Priester gebeichtet hatte, aber er brachte es nicht fertig, ihr Vertrauen zu missbrauchen.
Jahre später sah er sie auf dem Jean-Talon-Markt wieder. Sie sah gut aus, hatte abgenommen, und auch ihr Haar war nicht mehr sonachlässig zusammengesteckt, nur im Umgang mit Lippenstiften schien sie nicht geschickter geworden zu sein. Sie stand vielleicht zehn Meter von ihm entfernt und kaufte gerade eine Aubergine, und als sie aufsah und ihn erblickte, wirkte sie zu Tode erschrocken. Er nickte ihr unverbindlich zu und verschwand im Gewühl, während er jäh begriff, dass sie damals, in jener Zeit der Trauer und der Not, keineswegs etwas Erotisches ausgestrahlt hatte. Sie war nichts weiter als ein seelisches Wrack gewesen, und nur eine so einsame und narzisstische Persönlichkeit wie er hatte ihre Erscheinung so krass fehlinterpretieren können. Er marschierte schnurstracks zu seinem Wagen, ohne seinen Einkauf fortzusetzen, und dankte dem Himmel, dass er nicht noch größeren Schaden angerichtet hatte.
Ein paar Tage später sah er während der Besuchszeit noch einmal bei Grace vorbei. Er kam mit leeren Händen; seiner Exfrau Blumen mitzubringen, erschien ihm völlig daneben, unter welchen Umständen auch immer. Im Zimmer lag noch eine andere Patientin, die sich einen französischen
téléroman
im
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