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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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vorbei, während sie sich auf der Straße gegenüberstanden. Sie sah wunderschön aus.
    «Martine», sagte er. «Bitte.»
    Ihr kurzes, humorloses Lachen hing wie eine Rauchwolke zwischen ihnen, und all die Sätze, die er sich zurechtgelegt hatte, lösten sich in der kalten Luft auf. «Willst du mich heiraten?», brachte er stattdessen hervor.
    Dabei hatte er nicht mal einen Ring dabei. Martine legte den Kopf schief; ihre Miene blieb neutral, während sie ihn musterte, als wäre er ein neues Beweisstück, das ihr im Gerichtssaal vorgelegt wurde. Er hätte unmöglich sagen können, was in ihr vorging.
    «Du bist also wieder da», sagte sie schließlich.
    «Ich weiß, ich hätte früher vorbeisehen müssen. Viel früher. Aber ich … Es tut mir leid. Bitte, Martine, ich liebe dich. Ich liebe Mathieu.»
    Martine stellte die Einkaufstüten ab, kramte eine Zigarette hervor, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug. «Ich weiß, dass du an ihm hängst», sagte sie dann.
    «Es ist viel mehr», gab er zurück. «Ich hätte euch nie allein lassen dürfen. Ich hätte nie zulassen dürfen, dass wir uns immer weiter voneinander entfernen. Ich hätte dir sagen müssen, wie viel du mir bedeutest. Ich hätte niemals nach Iqaluit gehen dürfen.»
    Sie nickte – fast reflexartig, wie es schien. «Ja», sagte sie. «Das hättest du nicht tun sollen.»
    Sie warf einen Blick zu ihrer Wohnung hinauf. Da die Fenster des Kinderzimmers und des Wohnzimmers zur Straße hinausgingen, wollte sie sich offenbar vergewissern, ob Mathieu zu ihnen heruntersah, und anscheinend auch ihn auf den Kleinen aufmerksam machen. Was ihm die Gewissheit gab, dass sie ihn gleich hinaufbitten würde. Fünf Minuten noch, und er würde bei ihr in der Wohnung stehen.
    Der Gedanke beflügelte ihn ebenso wie die Vorstellung, endlich den Jungen wiederzusehen, mit ihm zu spielen, seine hohe, blecherne Stimme zu hören. Wie sehr sie ihm gefehlt hatten – die gemütlich verbrachten Wochenenden, die gemeinsamen Abendessen, selbst Mathieus endlose Gelehrtenvorträge.
    Martine musterte ihn mit ruhigem Blick, wartete darauf, dass er fortfuhr.
    Er fragte sich, warum sie Mathieu nicht wie gewöhnlich vom Hort abgeholt hatte, aber vielleicht hatte sie ja jemanden, der auf ihn aufpasste; jedenfalls würde sie ihn bestimmt nicht allein zu Hause lassen. Womöglich erklärte das ihr Zögern; eigentlich hätte sie Mitch hereinbitten müssen, statt dieses Gespräch mitten auf der Straße zu führen.
    «Martine», sagte er.
    Sie warf ihre Kippe auf den Gehsteig und trat sie sorgfältig mit der Schuhspitze aus. Als sie ihn wieder ansah, zuckte sie nur mit den Schultern. Im selben Augenblick begriff Mitch, dass nicht irgendwer auf Mathieu aufpasste, sondern ein Mann – und zwar ein Mann, der ihr innerhalb weniger Wochen näher gekommen war als er während ihrer gesamten Beziehung.
    «Ist es dieser Arzt?», fragte er. «Vendetti.»
    «Es läuft gut», erwiderte sie. «Mathieu mag ihn auch. Du hast ihm beigebracht, anderen Menschen gegenüber nicht so abweisend zu sein. Dafür bin ich dir sehr dankbar.»
    Ein feierlicher Ernst lag in ihrem Tonfall. Er fühlte sich, als würde ihm bei einer Preisverleihung eine Plakette überreicht. Es machte ihn wütend, und es gelang ihm nicht, das unausweichliche, halb vergessene Gefühl des Verlusts zu unterdrücken, das plötzlich mit aller Macht Besitz von ihm ergriff. «Er ist nichts für dich», sagte er. «Du und ich gehören zusammen.»
    Mit einem distanzierten, gezwungenen Lächeln griff Martine nach ihren Einkaufstüten. «Es ist besser, wenn du jetzt gehst», sagte sie und stieg die Treppenstufen hinauf.
    Und das war’s. Er hatte sich bereits in den vergangenen Wochen so entwurzelt gefühlt, dass ihn dieser Schlag keineswegs völlig aus dem Gleichgewicht brachte; vielmehr stürzte er ihn nur tiefer in den Abgrund seiner Seele. Am nächsten Morgen ging er wie gewohnt zur Arbeit, grüßte seine Kollegen und trank Kaffee aus dem üblichen Becher. Deprimiert saß er an seinem Schreibtisch, als ihm plötzlich jemand einfiel, dem es um vieles schlechter als ihm ging. Also nahm er während einer Pause den Aufzug nach unten und klopfte vorsichtig an Grace’ Zimmertür.
    Sie war allein und starrte mit verkniffener Miene an die Decke; aus ihrem Zopf hatten sich einige Strähnen gelöst. Sie trug immer noch die rote Wollsocke.
    «Hi», sagte er leise.
    Langsam wandte sie den Kopf, als würde ihr die BewegungSchmerzen bereiten, doch als sie ihn

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