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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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Hand. «Mach dir keine Sorgen», sagte er mit ruhiger, kraftvoller Stimme. «Alles wird gut.»
    Sie nickte kaum merklich. «Komisch, was?», sagte sie. «Sich nach so langer Zeit wiederzusehen.»

    Bei der Arbeit versuchte er sich nicht anmerken zu lassen, dass sein Selbstbewusstsein einen Knacks bekommen hatte. Alles – sein Sprechzimmer, seine Kollegen, die Krankenschwestern – kam ihm plötzlich nicht mehr vertraut, sondern fremd vor; sein Alltag schien komplett aus dem Rhythmus geraten zu sein. Er fragte sich, ob sein Schreibtischstuhl immer schon ein bisschen zu niedrig eingestellt gewesen war oder ob er die Sekretärin im dritten Stock mit dem richtigen Namen angesprochen hatte. Nichts schien mehr zu sein, wie es gewesen war. Wenn er morgens in Sportsakko und Freizeithose, einen Kaffeebecher in der Hand, zur Arbeit erschien, kam er sich wie ein Hochstapler vor, schlimmer noch als damals zu Beginn seiner Laufbahn. Selbst seine eigene Stimme schien nicht länger ein Teil von ihm zu sein. Die Minuten zogen sich endlos dahin, als klammerten sie sich förmlich an ihn.
    Seine Kollegen hatten Wind davon bekommen, was in Iqaluitpassiert war. Sie gingen ihm aus dem Weg, drückten ihr Mitgefühl durch beiläufiges Nicken und ein gezwungenes Lächeln aus, wenn sie ihm auf dem Flur begegneten, den Blick auf einen Punkt hinter seiner Schulter gerichtet. Es war fast, als befürchteten sie, sich bei ihm anzustecken, und Mitch konnte ihre Angst durchaus verstehen. Einen Patienten auf diese Weise zu verlieren, war der Albtraum jedes Therapeuten, und so waren sie sorgsam darauf bedacht, unter keinen Umständen mit diesem Versagen in Berührung zu kommen. Er wünschte, er könnte dasselbe tun.
    Indem er eine neue Drogentherapiegruppe ins Leben rief, versuchte er, seine Selbstzweifel zu verdrängen und sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Die Gruppe setzte sich aus zehn Patienten zwischen einundzwanzig und sechzig Jahren zusammen, deren einzige Gemeinsamkeit darin bestand, dass sie allesamt nach Zigarettenrauch stanken. Nervös und mit gesenkten Köpfen saßen sie im Halbkreis vor ihm, sorgsam darauf bedacht, mit ihren Stühlen stets einen sorgfältig austarierten Abstand voneinander zu halten; nicht mal versehentlich wollten sie mit den anderen in Berührung kommen, mit so viel Elend und Selbsthass. Man konnte Gott nur für die Probleme anderer danken, dachte er.
    «Tja», sagte er. «Dann fangen wir mal an.»
    Zunächst hielt er ihnen einen kleinen Vortrag über die Grundregeln, den er schon so oft zum Besten gegeben hatte, dass er ihn abspulen konnte, ohne auch nur einen Sekundenbruchteil innezuhalten. Sie hielten sich daran, und er versuchte ihnen so aufmerksam wie möglich zuzuhören, sich jede Einzelheit zu notieren, doch ertappte er sich alle naselang dabei, wie seine Gedanken abschweiften, und er musste sich ein ums andere Mal erneut zusammenreißen.
    Anderthalb Stunden später war er wieder allein mit sich und seinen trüben Gedanken. Die Sitzung war mehr oder minder reibungslos verlaufen; abschließend hatte er den Teilnehmern noch ihre «Hausaufgaben» mit auf den Weg gegeben. Sie hatten alle verständiggenickt, aber er wusste aus Erfahrung, dass etliche von ihnen wieder abspringen würden, und normalerweise schloss er Wetten mit sich selbst ab, wer bleiben und wen er beim nächsten Mal nicht wiedersehen würde. Diesmal aber fand er keinen Spaß daran. Dauernd erschien Thomasies Gesicht vor seinem inneren Auge.
    Er schleuderte seinen Stift quer über den Schreibtisch und stieß einen tiefen Seufzer aus.
    Um fünf verließ er die Klinik und fuhr zu Martine. Er hatte sie nicht vorher anrufen wollen. Er war nicht sicher, ob er das, was er ihr sagen wollte, in den paar Sekunden formulieren konnte, die sie ihm aus Höflichkeit gewähren würde; außerdem musste er ihr dabei ins Gesicht sehen.
    Wieder und wieder rekapitulierte er seine Worte in dem Wissen, dass ihm nur ein paar Sekunden blieben, um sie zu überzeugen. Er war derart in Gedanken versunken, dass er nicht einmal bemerkte, wie sie die Straße herunterkam, bis sie fast direkt vor ihm stand. Der Herbstwind hatte ihre Wangen gerötet, und sie hatte sich einen blauen Schal um den Hals gewickelt. Sie schleppte zwei Einkaufstüten nach Hause, doch als er die Hand ausstreckte, um ihr zu helfen, schüttelte sie den Kopf. Ihr Haar hatte sie wie üblich achtlos zusammengesteckt; Strähnen hingen aus ihrer improvisierten Frisur. Autofahrer fuhren laut hupend an ihnen

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